sehen, so finden sie einen eigenen Reiz in der Vorstellung, daß in weit entlegenen Ländern, beim Dämmerlicht der Kultur, in der Bildung begriffene Menschenvereine eines reinen, un- gestörten Glückes genießen. Diesem Gefühl verdankt Tacitus zum Teil den Beifall, der ihm geworden, als er den Römern, den Unterthanen der Cäsaren, die Sitten der Germanen schilderte. Dasselbe Gefühl gibt den Beschreibungen der Reisenden, die seit dem Ende des verflossenen Jahrhunderts die Inseln des Stillen Ozeans besucht haben, den unbeschreib- lichen Reiz.
Die Einwohner der zuletzt genannten Inseln, die man wohl zu stark gepriesen hat und die einst Menschenfresser waren, haben in mehr als einer Beziehung Aehnlichkeit mit den Guanchen von Tenerifa. Beide sehen wir unter dem Joche eines feudalen Regimentes seufzen, und bei den Guanchen war diese Staatsform, welche so leicht Kriege herbeiführt und sie nicht enden läßt, durch die Religion geheiligt. Die Priester sprachen zum Volk: "Achaman, der große Geist, hat zuerst die Edlen, die Achimenceys, geschaffen und ihnen alle Ziegen in der Welt zugeteilt. Nach den Edeln hat Achaman das gemeine Volk geschaffen, die Achicaxnas; dieses jüngere Ge- schlecht nahm sich heraus, gleichfalls Ziegen zu verlangen; aber das höchste Wesen erwiderte, das Volk sei dazu da, den Edeln dienstbar zu sein, und habe kein Eigentum nötig." Eine solche Ueberlieferung mußte den reichen Vasallen der Hirtenkönige ungemein behagen; auch stand dem Faycan oder Oberpriester das Recht zu, in den Adelstand zu erheben, und ein Gesetz verordnete, daß jeder Achimencey, der sich herbei- ließe, eine Ziege mit eigenen Händen zu melken, seines Adels verlustig sein sollte. Ein solches Gesetz erinnert keineswegs an die Sitteneinfalt des homerischen Zeitalters. Es befremdet, wenn man schon bei den Anfängen der Kultur die nützliche Beschäftigung mit Ackerbau und Viehzucht mit Verachtung gebrandmarkt sieht.
Die Guanchen waren berühmt durch ihren hohen Wuchs; sie erschienen als die Patagonen der Alten Welt und die Ge- schichtschreiber übertrieben ihre Muskelkraft, wie man vor Bougainvilles und Cordobas Reisen dem Volksstamm am Südende von Amerika eine kolossale Körpergröße zuschrieb. Mumien von Guanchen habe ich nur in den europäischen Kabinetten gesehen; zur Zeit meiner Reise waren sie auf Tene- rifa sehr selten; man müßte sie aber in Menge finden, wenn
ſehen, ſo finden ſie einen eigenen Reiz in der Vorſtellung, daß in weit entlegenen Ländern, beim Dämmerlicht der Kultur, in der Bildung begriffene Menſchenvereine eines reinen, un- geſtörten Glückes genießen. Dieſem Gefühl verdankt Tacitus zum Teil den Beifall, der ihm geworden, als er den Römern, den Unterthanen der Cäſaren, die Sitten der Germanen ſchilderte. Dasſelbe Gefühl gibt den Beſchreibungen der Reiſenden, die ſeit dem Ende des verfloſſenen Jahrhunderts die Inſeln des Stillen Ozeans beſucht haben, den unbeſchreib- lichen Reiz.
Die Einwohner der zuletzt genannten Inſeln, die man wohl zu ſtark geprieſen hat und die einſt Menſchenfreſſer waren, haben in mehr als einer Beziehung Aehnlichkeit mit den Guanchen von Tenerifa. Beide ſehen wir unter dem Joche eines feudalen Regimentes ſeufzen, und bei den Guanchen war dieſe Staatsform, welche ſo leicht Kriege herbeiführt und ſie nicht enden läßt, durch die Religion geheiligt. Die Prieſter ſprachen zum Volk: „Achaman, der große Geiſt, hat zuerſt die Edlen, die Achimenceys, geſchaffen und ihnen alle Ziegen in der Welt zugeteilt. Nach den Edeln hat Achaman das gemeine Volk geſchaffen, die Achicaxnas; dieſes jüngere Ge- ſchlecht nahm ſich heraus, gleichfalls Ziegen zu verlangen; aber das höchſte Weſen erwiderte, das Volk ſei dazu da, den Edeln dienſtbar zu ſein, und habe kein Eigentum nötig.“ Eine ſolche Ueberlieferung mußte den reichen Vaſallen der Hirtenkönige ungemein behagen; auch ſtand dem Faycan oder Oberprieſter das Recht zu, in den Adelſtand zu erheben, und ein Geſetz verordnete, daß jeder Achimencey, der ſich herbei- ließe, eine Ziege mit eigenen Händen zu melken, ſeines Adels verluſtig ſein ſollte. Ein ſolches Geſetz erinnert keineswegs an die Sitteneinfalt des homeriſchen Zeitalters. Es befremdet, wenn man ſchon bei den Anfängen der Kultur die nützliche Beſchäftigung mit Ackerbau und Viehzucht mit Verachtung gebrandmarkt ſieht.
Die Guanchen waren berühmt durch ihren hohen Wuchs; ſie erſchienen als die Patagonen der Alten Welt und die Ge- ſchichtſchreiber übertrieben ihre Muskelkraft, wie man vor Bougainvilles und Cordobas Reiſen dem Volksſtamm am Südende von Amerika eine koloſſale Körpergröße zuſchrieb. Mumien von Guanchen habe ich nur in den europäiſchen Kabinetten geſehen; zur Zeit meiner Reiſe waren ſie auf Tene- rifa ſehr ſelten; man müßte ſie aber in Menge finden, wenn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0135"n="119"/>ſehen, ſo finden ſie einen eigenen Reiz in der Vorſtellung,<lb/>
daß in weit entlegenen Ländern, beim Dämmerlicht der Kultur,<lb/>
in der Bildung begriffene Menſchenvereine eines reinen, un-<lb/>
geſtörten Glückes genießen. Dieſem Gefühl verdankt Tacitus<lb/>
zum Teil den Beifall, der ihm geworden, als er den Römern,<lb/>
den Unterthanen der Cäſaren, die Sitten der Germanen<lb/>ſchilderte. Dasſelbe Gefühl gibt den Beſchreibungen der<lb/>
Reiſenden, die ſeit dem Ende des verfloſſenen Jahrhunderts<lb/>
die Inſeln des Stillen Ozeans beſucht haben, den unbeſchreib-<lb/>
lichen Reiz.</p><lb/><p>Die Einwohner der zuletzt genannten Inſeln, die man<lb/>
wohl zu ſtark geprieſen hat und die einſt Menſchenfreſſer<lb/>
waren, haben in mehr als einer Beziehung Aehnlichkeit mit<lb/>
den Guanchen von Tenerifa. Beide ſehen wir unter dem<lb/>
Joche eines feudalen Regimentes ſeufzen, und bei den Guanchen<lb/>
war dieſe Staatsform, welche ſo leicht Kriege herbeiführt und<lb/>ſie nicht enden läßt, durch die Religion geheiligt. Die Prieſter<lb/>ſprachen zum Volk: „Achaman, der große Geiſt, hat zuerſt<lb/>
die Edlen, die Achimenceys, geſchaffen und ihnen alle Ziegen<lb/>
in der Welt zugeteilt. Nach den Edeln hat Achaman das<lb/>
gemeine Volk geſchaffen, die Achicaxnas; dieſes jüngere Ge-<lb/>ſchlecht nahm ſich heraus, gleichfalls Ziegen zu verlangen;<lb/>
aber das höchſte Weſen erwiderte, das Volk ſei dazu da, den<lb/>
Edeln dienſtbar zu ſein, und habe kein Eigentum nötig.“<lb/>
Eine ſolche Ueberlieferung mußte den reichen Vaſallen der<lb/>
Hirtenkönige ungemein behagen; auch ſtand dem Faycan oder<lb/>
Oberprieſter das Recht zu, in den Adelſtand zu erheben, und<lb/>
ein Geſetz verordnete, daß jeder Achimencey, der ſich herbei-<lb/>
ließe, eine Ziege mit eigenen Händen zu melken, ſeines Adels<lb/>
verluſtig ſein ſollte. Ein ſolches Geſetz erinnert keineswegs<lb/>
an die Sitteneinfalt des homeriſchen Zeitalters. Es befremdet,<lb/>
wenn man ſchon bei den Anfängen der Kultur die nützliche<lb/>
Beſchäftigung mit Ackerbau und Viehzucht mit Verachtung<lb/>
gebrandmarkt ſieht.</p><lb/><p>Die Guanchen waren berühmt durch ihren hohen Wuchs;<lb/>ſie erſchienen als die Patagonen der Alten Welt und die Ge-<lb/>ſchichtſchreiber übertrieben ihre Muskelkraft, wie man vor<lb/>
Bougainvilles und Cordobas Reiſen dem Volksſtamm am<lb/>
Südende von Amerika eine koloſſale Körpergröße zuſchrieb.<lb/>
Mumien von Guanchen habe ich nur in den europäiſchen<lb/>
Kabinetten geſehen; zur Zeit meiner Reiſe waren ſie auf Tene-<lb/>
rifa ſehr ſelten; man müßte ſie aber in Menge finden, wenn<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[119/0135]
ſehen, ſo finden ſie einen eigenen Reiz in der Vorſtellung,
daß in weit entlegenen Ländern, beim Dämmerlicht der Kultur,
in der Bildung begriffene Menſchenvereine eines reinen, un-
geſtörten Glückes genießen. Dieſem Gefühl verdankt Tacitus
zum Teil den Beifall, der ihm geworden, als er den Römern,
den Unterthanen der Cäſaren, die Sitten der Germanen
ſchilderte. Dasſelbe Gefühl gibt den Beſchreibungen der
Reiſenden, die ſeit dem Ende des verfloſſenen Jahrhunderts
die Inſeln des Stillen Ozeans beſucht haben, den unbeſchreib-
lichen Reiz.
Die Einwohner der zuletzt genannten Inſeln, die man
wohl zu ſtark geprieſen hat und die einſt Menſchenfreſſer
waren, haben in mehr als einer Beziehung Aehnlichkeit mit
den Guanchen von Tenerifa. Beide ſehen wir unter dem
Joche eines feudalen Regimentes ſeufzen, und bei den Guanchen
war dieſe Staatsform, welche ſo leicht Kriege herbeiführt und
ſie nicht enden läßt, durch die Religion geheiligt. Die Prieſter
ſprachen zum Volk: „Achaman, der große Geiſt, hat zuerſt
die Edlen, die Achimenceys, geſchaffen und ihnen alle Ziegen
in der Welt zugeteilt. Nach den Edeln hat Achaman das
gemeine Volk geſchaffen, die Achicaxnas; dieſes jüngere Ge-
ſchlecht nahm ſich heraus, gleichfalls Ziegen zu verlangen;
aber das höchſte Weſen erwiderte, das Volk ſei dazu da, den
Edeln dienſtbar zu ſein, und habe kein Eigentum nötig.“
Eine ſolche Ueberlieferung mußte den reichen Vaſallen der
Hirtenkönige ungemein behagen; auch ſtand dem Faycan oder
Oberprieſter das Recht zu, in den Adelſtand zu erheben, und
ein Geſetz verordnete, daß jeder Achimencey, der ſich herbei-
ließe, eine Ziege mit eigenen Händen zu melken, ſeines Adels
verluſtig ſein ſollte. Ein ſolches Geſetz erinnert keineswegs
an die Sitteneinfalt des homeriſchen Zeitalters. Es befremdet,
wenn man ſchon bei den Anfängen der Kultur die nützliche
Beſchäftigung mit Ackerbau und Viehzucht mit Verachtung
gebrandmarkt ſieht.
Die Guanchen waren berühmt durch ihren hohen Wuchs;
ſie erſchienen als die Patagonen der Alten Welt und die Ge-
ſchichtſchreiber übertrieben ihre Muskelkraft, wie man vor
Bougainvilles und Cordobas Reiſen dem Volksſtamm am
Südende von Amerika eine koloſſale Körpergröße zuſchrieb.
Mumien von Guanchen habe ich nur in den europäiſchen
Kabinetten geſehen; zur Zeit meiner Reiſe waren ſie auf Tene-
rifa ſehr ſelten; man müßte ſie aber in Menge finden, wenn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/135>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.