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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Entfernung sieht und ein bläulicher Duft gleichförmig auf der
ganzen Landschaft liegt. Durch seine schlanke Gestalt und
seine eigentümliche Lage vereinigt nun der Pik von Tenerifa
die Vorteile niedrigerer Gipfel mit denen, wie sehr bedeutende
Höhen sie bieten. Man erblickt auf seiner Spitze nicht allein
einen ungeheuren Meereshorizont, der über die höchsten Berge
der benachbarten Inseln hinaufreicht, man sieht auch die
Wälder von Tenerifa und die bewohnten Küstenstriche so nahe,
daß noch Umrisse und Farben in den schönsten Kontrasten
hervortreten. Es ist, als ob der Vulkan die kleine Insel, die
ihm zur Grundlage dient, erdrückte; er steigt aus dem Schoße
des Meeres dreimal höher auf, als die Wolken im Sommer
ziehen. Wenn sein seit Jahrhunderten halb erloschener Krater
Feuergarben auswürfe wie der Stromboli der äolischen Inseln,
so würde der Pik von Tenerifa dem Schiffer in einem Um-
kreis von mehr als 1170 km als Leuchtturm dienen.

Wir lagerten uns am äußeren Rande des Kraters und
blickten zuerst nach Nordwest, wo die Küsten mit Dörfern
und Weilern geschmückt sind. Vom Winde fortwährend hin
und her getriebene Dunstmassen zu unseren Füßen boten uns
das mannigfaltigste Schauspiel. Eine ebene Wolkenschicht
zwischen uns und den tiefen Regionen der Insel, dieselbe,
von der oben die Rede war, war da und dort durch die kleinen
Luftströme durchbrochen, welche nachgerade die von der Sonne
erwärmte Erdoberfläche zu uns heraufsandte. Der Hafen von
Orotava, die darin ankernden Schiffe, die Gärten und Wein-
berge um die Stadt wurden durch eine Oeffnung sichtbar,
welche jeden Augenblick größer zu werden schien. Aus diesen
einsamen Regionen blickten wir nieder in eine bewohnte Welt;
wir ergötzten uns am lebhaften Kontrast zwischen den dürren
Flanken des Piks, seinen mit Schlacken bedeckten steilen Ab-
hängen, seinen pflanzenlosen Plateaus, und dem lachenden
Anblick des bebauten Landes; wir sahen, wie sich die Ge-
wächse nach der mit der Höhe abnehmenden Temperatur in
Zonen verteilten. Unter dem Piton beginnen Flechten die
verschlackten, glänzenden Laven zu überziehen; ein Veilchen, 1
das der Viola decumbens nahe steht, geht am Abhang des
Vulkanes bis zu 3390 m Höhe, höher nicht allein als die
anderen krautartigen Gewächse, sondern sogar höher als die
Gräser, welche in den Alpen und auf dem Rücken der Kor-

1 Viola cheiranthifolia.

Entfernung ſieht und ein bläulicher Duft gleichförmig auf der
ganzen Landſchaft liegt. Durch ſeine ſchlanke Geſtalt und
ſeine eigentümliche Lage vereinigt nun der Pik von Tenerifa
die Vorteile niedrigerer Gipfel mit denen, wie ſehr bedeutende
Höhen ſie bieten. Man erblickt auf ſeiner Spitze nicht allein
einen ungeheuren Meereshorizont, der über die höchſten Berge
der benachbarten Inſeln hinaufreicht, man ſieht auch die
Wälder von Tenerifa und die bewohnten Küſtenſtriche ſo nahe,
daß noch Umriſſe und Farben in den ſchönſten Kontraſten
hervortreten. Es iſt, als ob der Vulkan die kleine Inſel, die
ihm zur Grundlage dient, erdrückte; er ſteigt aus dem Schoße
des Meeres dreimal höher auf, als die Wolken im Sommer
ziehen. Wenn ſein ſeit Jahrhunderten halb erloſchener Krater
Feuergarben auswürfe wie der Stromboli der äoliſchen Inſeln,
ſo würde der Pik von Tenerifa dem Schiffer in einem Um-
kreis von mehr als 1170 km als Leuchtturm dienen.

Wir lagerten uns am äußeren Rande des Kraters und
blickten zuerſt nach Nordweſt, wo die Küſten mit Dörfern
und Weilern geſchmückt ſind. Vom Winde fortwährend hin
und her getriebene Dunſtmaſſen zu unſeren Füßen boten uns
das mannigfaltigſte Schauſpiel. Eine ebene Wolkenſchicht
zwiſchen uns und den tiefen Regionen der Inſel, dieſelbe,
von der oben die Rede war, war da und dort durch die kleinen
Luftſtröme durchbrochen, welche nachgerade die von der Sonne
erwärmte Erdoberfläche zu uns heraufſandte. Der Hafen von
Orotava, die darin ankernden Schiffe, die Gärten und Wein-
berge um die Stadt wurden durch eine Oeffnung ſichtbar,
welche jeden Augenblick größer zu werden ſchien. Aus dieſen
einſamen Regionen blickten wir nieder in eine bewohnte Welt;
wir ergötzten uns am lebhaften Kontraſt zwiſchen den dürren
Flanken des Piks, ſeinen mit Schlacken bedeckten ſteilen Ab-
hängen, ſeinen pflanzenloſen Plateaus, und dem lachenden
Anblick des bebauten Landes; wir ſahen, wie ſich die Ge-
wächſe nach der mit der Höhe abnehmenden Temperatur in
Zonen verteilten. Unter dem Piton beginnen Flechten die
verſchlackten, glänzenden Laven zu überziehen; ein Veilchen, 1
das der Viola decumbens nahe ſteht, geht am Abhang des
Vulkanes bis zu 3390 m Höhe, höher nicht allein als die
anderen krautartigen Gewächſe, ſondern ſogar höher als die
Gräſer, welche in den Alpen und auf dem Rücken der Kor-

1 Viola cheiranthifolia.
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[91/0107] Entfernung ſieht und ein bläulicher Duft gleichförmig auf der ganzen Landſchaft liegt. Durch ſeine ſchlanke Geſtalt und ſeine eigentümliche Lage vereinigt nun der Pik von Tenerifa die Vorteile niedrigerer Gipfel mit denen, wie ſehr bedeutende Höhen ſie bieten. Man erblickt auf ſeiner Spitze nicht allein einen ungeheuren Meereshorizont, der über die höchſten Berge der benachbarten Inſeln hinaufreicht, man ſieht auch die Wälder von Tenerifa und die bewohnten Küſtenſtriche ſo nahe, daß noch Umriſſe und Farben in den ſchönſten Kontraſten hervortreten. Es iſt, als ob der Vulkan die kleine Inſel, die ihm zur Grundlage dient, erdrückte; er ſteigt aus dem Schoße des Meeres dreimal höher auf, als die Wolken im Sommer ziehen. Wenn ſein ſeit Jahrhunderten halb erloſchener Krater Feuergarben auswürfe wie der Stromboli der äoliſchen Inſeln, ſo würde der Pik von Tenerifa dem Schiffer in einem Um- kreis von mehr als 1170 km als Leuchtturm dienen. Wir lagerten uns am äußeren Rande des Kraters und blickten zuerſt nach Nordweſt, wo die Küſten mit Dörfern und Weilern geſchmückt ſind. Vom Winde fortwährend hin und her getriebene Dunſtmaſſen zu unſeren Füßen boten uns das mannigfaltigſte Schauſpiel. Eine ebene Wolkenſchicht zwiſchen uns und den tiefen Regionen der Inſel, dieſelbe, von der oben die Rede war, war da und dort durch die kleinen Luftſtröme durchbrochen, welche nachgerade die von der Sonne erwärmte Erdoberfläche zu uns heraufſandte. Der Hafen von Orotava, die darin ankernden Schiffe, die Gärten und Wein- berge um die Stadt wurden durch eine Oeffnung ſichtbar, welche jeden Augenblick größer zu werden ſchien. Aus dieſen einſamen Regionen blickten wir nieder in eine bewohnte Welt; wir ergötzten uns am lebhaften Kontraſt zwiſchen den dürren Flanken des Piks, ſeinen mit Schlacken bedeckten ſteilen Ab- hängen, ſeinen pflanzenloſen Plateaus, und dem lachenden Anblick des bebauten Landes; wir ſahen, wie ſich die Ge- wächſe nach der mit der Höhe abnehmenden Temperatur in Zonen verteilten. Unter dem Piton beginnen Flechten die verſchlackten, glänzenden Laven zu überziehen; ein Veilchen, 1 das der Viola decumbens nahe ſteht, geht am Abhang des Vulkanes bis zu 3390 m Höhe, höher nicht allein als die anderen krautartigen Gewächſe, ſondern ſogar höher als die Gräſer, welche in den Alpen und auf dem Rücken der Kor- 1 Viola cheiranthifolia.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/107>, abgerufen am 22.11.2024.