Miene bemerkten: "Wenn Christus bloßer Mensch ist, so kann er unser Vorbild sein; aber nicht wenn er Gott ist." Wahrlich, mit dem Glauben scheinen diese Leute auch den natürlichen Verstand nach und nach zu verlieren. Oder wenn die Schüler das Schönschreiben, das Zeichnen, das Malen, die Redekunst erlernen sollen, gibt man ihnen etwa Muster und Vorlagen voll Fehler und Mängel mit dem Bemerken: "So weit könnt ihr's etwa bringen, aber nicht weiter; der Spatz fliegt nicht mit dem Adler." Nicht wahr, solche Leute würde man für halb närrisch anschauen! Aber wenn es sich und die Erziehung handelt, um die Entwicklung aller edlen Anlagen, um die Heran- bildung des Kindes nicht bloß für diese Spanne Zeit, sondern für die lange Ewigkeit, da soll auf einmal jedes Vorbild gut genug sein? Da soll der Grundsatz gelten: Je unvollkommener desto besser, desto brauchbarer; je vollkommener desto schlechter, desto unbrauchbarer! Wo liegt da der tiefere Grund?
Die schönsten Vorlagen für Schreiben, Zeichnen, Malen legen der sinnlichen Natur keine Opfer auf; die herrlichsten Bilder in der Rede-, Dicht- und Tonkunst verlangen nicht die Abtötung der bösen Neigungen, sondern gestatten, so lange wenigstens der äußere Anstand nicht zu grob verletzt wird, den Gelüsten freien Raum; ja selbst diese Dichter und Schriftsteller und Redner und Staatsmänner, welche man als Vorbilder gebrauchen will, lassen der gesunden Sinnlichkeit so viel Spielraum, daß sie gewisse Gebote Gottes nicht zu fürchten hat. Das Evangelium Christi ist gewichen dem Evangelium der fünf Sinne! Aber jenes Vorbild, das der himm- lische Vater uns gegeben, als er sprach: "Das ist mein geliebter Sohn, den sollet ihr hören," jenes Vorbild, das von zarter Kindheit auf an Weisheit und Gnade zunahm vor Gott und den Menschen, dies einzige Vorbild einer
Miene bemerkten: „Wenn Christus bloßer Mensch ist, so kann er unser Vorbild sein; aber nicht wenn er Gott ist.“ Wahrlich, mit dem Glauben scheinen diese Leute auch den natürlichen Verstand nach und nach zu verlieren. Oder wenn die Schüler das Schönschreiben, das Zeichnen, das Malen, die Redekunst erlernen sollen, gibt man ihnen etwa Muster und Vorlagen voll Fehler und Mängel mit dem Bemerken: „So weit könnt ihr's etwa bringen, aber nicht weiter; der Spatz fliegt nicht mit dem Adler.“ Nicht wahr, solche Leute würde man für halb närrisch anschauen! Aber wenn es sich und die Erziehung handelt, um die Entwicklung aller edlen Anlagen, um die Heran- bildung des Kindes nicht bloß für diese Spanne Zeit, sondern für die lange Ewigkeit, da soll auf einmal jedes Vorbild gut genug sein? Da soll der Grundsatz gelten: Je unvollkommener desto besser, desto brauchbarer; je vollkommener desto schlechter, desto unbrauchbarer! Wo liegt da der tiefere Grund?
Die schönsten Vorlagen für Schreiben, Zeichnen, Malen legen der sinnlichen Natur keine Opfer auf; die herrlichsten Bilder in der Rede–, Dicht- und Tonkunst verlangen nicht die Abtötung der bösen Neigungen, sondern gestatten, so lange wenigstens der äußere Anstand nicht zu grob verletzt wird, den Gelüsten freien Raum; ja selbst diese Dichter und Schriftsteller und Redner und Staatsmänner, welche man als Vorbilder gebrauchen will, lassen der gesunden Sinnlichkeit so viel Spielraum, daß sie gewisse Gebote Gottes nicht zu fürchten hat. Das Evangelium Christi ist gewichen dem Evangelium der fünf Sinne! Aber jenes Vorbild, das der himm- lische Vater uns gegeben, als er sprach: „Das ist mein geliebter Sohn, den sollet ihr hören,“ jenes Vorbild, das von zarter Kindheit auf an Weisheit und Gnade zunahm vor Gott und den Menschen, dies einzige Vorbild einer
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Miene bemerkten: „Wenn Christus bloßer Mensch ist, so
kann er unser Vorbild sein; aber nicht wenn er Gott ist.“
Wahrlich, mit dem Glauben scheinen diese Leute auch
den natürlichen Verstand nach und nach zu verlieren.
Oder wenn die Schüler das Schönschreiben, das Zeichnen,
das Malen, die Redekunst erlernen sollen, gibt man
ihnen etwa Muster und Vorlagen voll Fehler und Mängel
mit dem Bemerken: „So weit könnt ihr's etwa bringen,
aber nicht weiter; der Spatz fliegt nicht mit dem Adler.“
Nicht wahr, solche Leute würde man für halb närrisch
anschauen! Aber wenn es sich und die Erziehung handelt,
um die Entwicklung aller edlen Anlagen, um die Heran-
bildung des Kindes nicht bloß für diese Spanne Zeit,
sondern für die lange Ewigkeit, da soll auf einmal jedes
Vorbild gut genug sein? Da soll der Grundsatz gelten:
Je unvollkommener desto besser, desto brauchbarer; je
vollkommener desto schlechter, desto unbrauchbarer! Wo
liegt da der tiefere Grund?
Die schönsten Vorlagen für Schreiben, Zeichnen,
Malen legen der sinnlichen Natur keine Opfer auf; die
herrlichsten Bilder in der Rede–, Dicht- und Tonkunst
verlangen nicht die Abtötung der bösen Neigungen, sondern
gestatten, so lange wenigstens der äußere Anstand nicht
zu grob verletzt wird, den Gelüsten freien Raum; ja
selbst diese Dichter und Schriftsteller und Redner und
Staatsmänner, welche man als Vorbilder gebrauchen
will, lassen der gesunden Sinnlichkeit so viel Spielraum,
daß sie gewisse Gebote Gottes nicht zu fürchten hat.
Das Evangelium Christi ist gewichen dem Evangelium
der fünf Sinne! Aber jenes Vorbild, das der himm-
lische Vater uns gegeben, als er sprach: „Das ist mein
geliebter Sohn, den sollet ihr hören,“ jenes Vorbild, das
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Hug, Gallus Joseph: Die christliche Familie im Kampfe gegen feindliche Mächte. Vorträge über christliche Ehe und Erziehung. Freiburg (Schweiz), 1896, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hug_familie_1896/193>, abgerufen am 22.11.2024.
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