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Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862.

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so vollkommene Erscheinung geradezu jenes Wort des HErrn Lügen
strafen würde. Nicht die Vielheit sichtbarer Kirchen und ihre confes-
sionellen Differenzen, sondern daß dem wirklich im Apostolicum vor-
handenen gemeinsamen Glaubensschatze die Liebesarmuth so wenig
entspricht, an der sie alle kranken -- das ist der giftige Stachel,
der immer wieder in der Sehnsucht nach der Erfüllung jener Ver-
heißung auch in einer sichtbaren Kirche, statt die Hoffnung zu stärken,
den Schmerz schärft.

Das zweite Stück ist die Dignität und Berechtigung der sub-
jektiven
Momente des geistlichen Lebens, nicht im Gegensatz zu
den objektiven Momenten, sondern neben, in und mit den-
selben. Wo und soweit beide Kategorieen aber sich wirklich nicht
in lebendiger Einheit und Harmonie durchdringen, oder doch nicht
so von uns erkannt werden können, da gilt es, dem Subjektiven
weit mehr Respekt zu erweisen, als es meist von confessionell ob-
jektivistischen Eiferern geschieht, welche gar zu wenig Gewicht auf
die allgemeinere Bedeutung legen, die in dem Ausspruch des HErrn
gerade auch für diese Frage liegt: "Der Sabbath ist um des
Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbaths willen."
Wenn man so manche Stimmen aus dieser oder jener Confessions-
kirche hört, so sollte man wirklich glauben, die Erweckung und Be-
kehrung von Hunderten, ja Tausenden verlorener Schafe aus
diesem oder jenem sichtbaren "Stalle" komme gar nicht in Betracht
gegen so manche objektive und oft genug blos formale Kirchenfrage,
während doch die Rettung einer einzigen Seele, das Wiederfinden
eines einzigen Lammes alle Himmel mit Freude und Preis erfüllt. --
Wahrscheinlich doch wohl ohne Unterschied, ob das Verlorene dieser
oder jener, oder noch gar keiner Heerde zugehört, ob es dieser oder
jener Heerde zugeführt wird -- sofern es nur fortan mit allen Heerden
und allen Lämmern dem großen Erzhirten folgt. Danach aber
dürfte die Geringschätzung oder Verdammung, womit manche eifrige
Hirten dieser oder jener Heerde solche Seelenrettungen außerhalb
ihrer Heerden betrachten, sich schwerlich evangelisch rechtfertigen laßen.
Ohne Zweifel gibt es Fälle, wo unter dem heuchlerischen Schein
der Rettung geradezu Seelenraub getrieben wird, wie z. B. von
Seiten der Baptisten in unseren lutherischen Gemeinen -- wieweit
mit oder ohne Schuld der Hirten ist eine andere Frage! -- Jeden-

ſo vollkommene Erſcheinung geradezu jenes Wort des HErrn Lügen
ſtrafen würde. Nicht die Vielheit ſichtbarer Kirchen und ihre confeſ-
ſionellen Differenzen, ſondern daß dem wirklich im Apoſtolicum vor-
handenen gemeinſamen Glaubensſchatze die Liebesarmuth ſo wenig
entſpricht, an der ſie alle kranken — das iſt der giftige Stachel,
der immer wieder in der Sehnſucht nach der Erfüllung jener Ver-
heißung auch in einer ſichtbaren Kirche, ſtatt die Hoffnung zu ſtärken,
den Schmerz ſchärft.

Das zweite Stück iſt die Dignität und Berechtigung der ſub-
jektiven
Momente des geiſtlichen Lebens, nicht im Gegenſatz zu
den objektiven Momenten, ſondern neben, in und mit den-
ſelben. Wo und ſoweit beide Kategorieen aber ſich wirklich nicht
in lebendiger Einheit und Harmonie durchdringen, oder doch nicht
ſo von uns erkannt werden können, da gilt es, dem Subjektiven
weit mehr Reſpekt zu erweiſen, als es meiſt von confeſſionell ob-
jektiviſtiſchen Eiferern geſchieht, welche gar zu wenig Gewicht auf
die allgemeinere Bedeutung legen, die in dem Ausſpruch des HErrn
gerade auch für dieſe Frage liegt: „Der Sabbath iſt um des
Menſchen willen da und nicht der Menſch um des Sabbaths willen.‟
Wenn man ſo manche Stimmen aus dieſer oder jener Confeſſions-
kirche hört, ſo ſollte man wirklich glauben, die Erweckung und Be-
kehrung von Hunderten, ja Tauſenden verlorener Schafe aus
dieſem oder jenem ſichtbaren „Stalle‟ komme gar nicht in Betracht
gegen ſo manche objektive und oft genug blos formale Kirchenfrage,
während doch die Rettung einer einzigen Seele, das Wiederfinden
eines einzigen Lammes alle Himmel mit Freude und Preis erfüllt. —
Wahrſcheinlich doch wohl ohne Unterſchied, ob das Verlorene dieſer
oder jener, oder noch gar keiner Heerde zugehört, ob es dieſer oder
jener Heerde zugeführt wird — ſofern es nur fortan mit allen Heerden
und allen Lämmern dem großen Erzhirten folgt. Danach aber
dürfte die Geringſchätzung oder Verdammung, womit manche eifrige
Hirten dieſer oder jener Heerde ſolche Seelenrettungen außerhalb
ihrer Heerden betrachten, ſich ſchwerlich evangeliſch rechtfertigen laßen.
Ohne Zweifel gibt es Fälle, wo unter dem heuchleriſchen Schein
der Rettung geradezu Seelenraub getrieben wird, wie z. B. von
Seiten der Baptiſten in unſeren lutheriſchen Gemeinen — wieweit
mit oder ohne Schuld der Hirten iſt eine andere Frage! — Jeden-

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[44/0050] ſo vollkommene Erſcheinung geradezu jenes Wort des HErrn Lügen ſtrafen würde. Nicht die Vielheit ſichtbarer Kirchen und ihre confeſ- ſionellen Differenzen, ſondern daß dem wirklich im Apoſtolicum vor- handenen gemeinſamen Glaubensſchatze die Liebesarmuth ſo wenig entſpricht, an der ſie alle kranken — das iſt der giftige Stachel, der immer wieder in der Sehnſucht nach der Erfüllung jener Ver- heißung auch in einer ſichtbaren Kirche, ſtatt die Hoffnung zu ſtärken, den Schmerz ſchärft. Das zweite Stück iſt die Dignität und Berechtigung der ſub- jektiven Momente des geiſtlichen Lebens, nicht im Gegenſatz zu den objektiven Momenten, ſondern neben, in und mit den- ſelben. Wo und ſoweit beide Kategorieen aber ſich wirklich nicht in lebendiger Einheit und Harmonie durchdringen, oder doch nicht ſo von uns erkannt werden können, da gilt es, dem Subjektiven weit mehr Reſpekt zu erweiſen, als es meiſt von confeſſionell ob- jektiviſtiſchen Eiferern geſchieht, welche gar zu wenig Gewicht auf die allgemeinere Bedeutung legen, die in dem Ausſpruch des HErrn gerade auch für dieſe Frage liegt: „Der Sabbath iſt um des Menſchen willen da und nicht der Menſch um des Sabbaths willen.‟ Wenn man ſo manche Stimmen aus dieſer oder jener Confeſſions- kirche hört, ſo ſollte man wirklich glauben, die Erweckung und Be- kehrung von Hunderten, ja Tauſenden verlorener Schafe aus dieſem oder jenem ſichtbaren „Stalle‟ komme gar nicht in Betracht gegen ſo manche objektive und oft genug blos formale Kirchenfrage, während doch die Rettung einer einzigen Seele, das Wiederfinden eines einzigen Lammes alle Himmel mit Freude und Preis erfüllt. — Wahrſcheinlich doch wohl ohne Unterſchied, ob das Verlorene dieſer oder jener, oder noch gar keiner Heerde zugehört, ob es dieſer oder jener Heerde zugeführt wird — ſofern es nur fortan mit allen Heerden und allen Lämmern dem großen Erzhirten folgt. Danach aber dürfte die Geringſchätzung oder Verdammung, womit manche eifrige Hirten dieſer oder jener Heerde ſolche Seelenrettungen außerhalb ihrer Heerden betrachten, ſich ſchwerlich evangeliſch rechtfertigen laßen. Ohne Zweifel gibt es Fälle, wo unter dem heuchleriſchen Schein der Rettung geradezu Seelenraub getrieben wird, wie z. B. von Seiten der Baptiſten in unſeren lutheriſchen Gemeinen — wieweit mit oder ohne Schuld der Hirten iſt eine andere Frage! — Jeden-

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Zitationshilfe: Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_revival_1862/50>, abgerufen am 27.11.2024.