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Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862.

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bedeutendern Herde oder Crater der Bewegung. Was dann das
Wesen und die Symptome der einzelnen Fälle betrifft, so zeigen sie
bei manchen gemeinsamen Zügen, namentlich der äußeren Erschei-
nung, doch eine große Mannigfaltigkeit sowohl in der Jntensität
derselben Symptome, als in dem Vorhandensein oder der Abwesen-
heit gewißer Symptome. Möchte auch wohl mit Grund zu behaupten
sein, daß kaum ein Fall der Art rein auf psychischem oder sitt-
lichem Gebiet, ganz ohne Mitwirkung physischer Momente verläuft,
so fehlt es doch nicht an solchen Fällen, die sich durch die Einwir-
kung einer sehr gewaltsamen tiefen religiösen Aufregung auf das
Nervensystem ebenso erklären, wie bei so manchen sattsam bekannten
Erscheinungen nervöser Art in Folge von Schreck, Angst, Schmerz
um wirklichen oder bevorstehenden Verlust geliebter Gegenstände u. s. w.
Daran schließen sich vielleicht eben so zahlreiche Fälle, wo zu diesen
noch keineswegs pathologischen Affecten Erscheinungen kommen, die
mehr oder weniger in das so unendlich weite, schwankende und
wechselnde, mannigfaltige Gebiet der Nervenleiden, namentlich der
Hysterie bis zur Katalepsis u. s. w. fallen. Dies kann um so weniger
befremden, da mindestens neunzig von hundert solcher Zufälle
beim weiblichen Geschlecht vorkommen, wo bei einiger hysterischen
Anlage unter den obwaltenden, so höchst aufregenden äußeren und
inneren Umständen ein Ausbruch kaum zu vermeiden scheint. Zur
Charakteristik solcher Fälle gehört dann begreiflich vor Allem das
Mehr oder Weniger, das Verhältniß zwischen wirklich religiösen
und sinnlichen Momenten, und es läßt sich nicht läugnen, daß viele
Fälle auf fast ganz und rein hysterische Symptome hinauslaufen,
bei denen dann bekanntlich sehr oft sittliche Schuld, Betrug gegen
Andere und Selbstbetrug, oder thörichter perverser Wille und na-
mentlich geschlechtliche Momente von vorn herein oder später mit-
wirken. Gewiß aber wird kein in solchen Dingen Urtheilsfähiger
läugnen, daß auch bei einem höheren Grade hysterischer Compli-
cation doch ein hoher Grad aufrichtiger und an sich gesunder reli-
giöser An- und Aufregung Statt finden kann. Endlich bin ich
meines Orts keineswegs vorbereitet, zu läugnen, daß nicht in dem
dunkeln Gebiet, worin sich die nervösen Affekte verlaufen, auch beim
Revival gelegentlich der Uebergang in das Gebiet wirklich dämoni-
scher Einwirkungen Statt gefunden haben mag. Jn solchen Fällen

bedeutendern Herde oder Crater der Bewegung. Was dann das
Weſen und die Symptome der einzelnen Fälle betrifft, ſo zeigen ſie
bei manchen gemeinſamen Zügen, namentlich der äußeren Erſchei-
nung, doch eine große Mannigfaltigkeit ſowohl in der Jntenſität
derſelben Symptome, als in dem Vorhandenſein oder der Abweſen-
heit gewißer Symptome. Möchte auch wohl mit Grund zu behaupten
ſein, daß kaum ein Fall der Art rein auf pſychiſchem oder ſitt-
lichem Gebiet, ganz ohne Mitwirkung phyſiſcher Momente verläuft,
ſo fehlt es doch nicht an ſolchen Fällen, die ſich durch die Einwir-
kung einer ſehr gewaltſamen tiefen religiöſen Aufregung auf das
Nervenſyſtem ebenſo erklären, wie bei ſo manchen ſattſam bekannten
Erſcheinungen nervöſer Art in Folge von Schreck, Angſt, Schmerz
um wirklichen oder bevorſtehenden Verluſt geliebter Gegenſtände u. ſ. w.
Daran ſchließen ſich vielleicht eben ſo zahlreiche Fälle, wo zu dieſen
noch keineswegs pathologiſchen Affecten Erſcheinungen kommen, die
mehr oder weniger in das ſo unendlich weite, ſchwankende und
wechſelnde, mannigfaltige Gebiet der Nervenleiden, namentlich der
Hyſterie bis zur Katalepſis u. ſ. w. fallen. Dies kann um ſo weniger
befremden, da mindeſtens neunzig von hundert ſolcher Zufälle
beim weiblichen Geſchlecht vorkommen, wo bei einiger hyſteriſchen
Anlage unter den obwaltenden, ſo höchſt aufregenden äußeren und
inneren Umſtänden ein Ausbruch kaum zu vermeiden ſcheint. Zur
Charakteriſtik ſolcher Fälle gehört dann begreiflich vor Allem das
Mehr oder Weniger, das Verhältniß zwiſchen wirklich religiöſen
und ſinnlichen Momenten, und es läßt ſich nicht läugnen, daß viele
Fälle auf faſt ganz und rein hyſteriſche Symptome hinauslaufen,
bei denen dann bekanntlich ſehr oft ſittliche Schuld, Betrug gegen
Andere und Selbſtbetrug, oder thörichter perverſer Wille und na-
mentlich geſchlechtliche Momente von vorn herein oder ſpäter mit-
wirken. Gewiß aber wird kein in ſolchen Dingen Urtheilsfähiger
läugnen, daß auch bei einem höheren Grade hyſteriſcher Compli-
cation doch ein hoher Grad aufrichtiger und an ſich geſunder reli-
giöſer An- und Aufregung Statt finden kann. Endlich bin ich
meines Orts keineswegs vorbereitet, zu läugnen, daß nicht in dem
dunkeln Gebiet, worin ſich die nervöſen Affekte verlaufen, auch beim
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[23/0029] bedeutendern Herde oder Crater der Bewegung. Was dann das Weſen und die Symptome der einzelnen Fälle betrifft, ſo zeigen ſie bei manchen gemeinſamen Zügen, namentlich der äußeren Erſchei- nung, doch eine große Mannigfaltigkeit ſowohl in der Jntenſität derſelben Symptome, als in dem Vorhandenſein oder der Abweſen- heit gewißer Symptome. Möchte auch wohl mit Grund zu behaupten ſein, daß kaum ein Fall der Art rein auf pſychiſchem oder ſitt- lichem Gebiet, ganz ohne Mitwirkung phyſiſcher Momente verläuft, ſo fehlt es doch nicht an ſolchen Fällen, die ſich durch die Einwir- kung einer ſehr gewaltſamen tiefen religiöſen Aufregung auf das Nervenſyſtem ebenſo erklären, wie bei ſo manchen ſattſam bekannten Erſcheinungen nervöſer Art in Folge von Schreck, Angſt, Schmerz um wirklichen oder bevorſtehenden Verluſt geliebter Gegenſtände u. ſ. w. Daran ſchließen ſich vielleicht eben ſo zahlreiche Fälle, wo zu dieſen noch keineswegs pathologiſchen Affecten Erſcheinungen kommen, die mehr oder weniger in das ſo unendlich weite, ſchwankende und wechſelnde, mannigfaltige Gebiet der Nervenleiden, namentlich der Hyſterie bis zur Katalepſis u. ſ. w. fallen. Dies kann um ſo weniger befremden, da mindeſtens neunzig von hundert ſolcher Zufälle beim weiblichen Geſchlecht vorkommen, wo bei einiger hyſteriſchen Anlage unter den obwaltenden, ſo höchſt aufregenden äußeren und inneren Umſtänden ein Ausbruch kaum zu vermeiden ſcheint. Zur Charakteriſtik ſolcher Fälle gehört dann begreiflich vor Allem das Mehr oder Weniger, das Verhältniß zwiſchen wirklich religiöſen und ſinnlichen Momenten, und es läßt ſich nicht läugnen, daß viele Fälle auf faſt ganz und rein hyſteriſche Symptome hinauslaufen, bei denen dann bekanntlich ſehr oft ſittliche Schuld, Betrug gegen Andere und Selbſtbetrug, oder thörichter perverſer Wille und na- mentlich geſchlechtliche Momente von vorn herein oder ſpäter mit- wirken. Gewiß aber wird kein in ſolchen Dingen Urtheilsfähiger läugnen, daß auch bei einem höheren Grade hyſteriſcher Compli- cation doch ein hoher Grad aufrichtiger und an ſich geſunder reli- giöſer An- und Aufregung Statt finden kann. Endlich bin ich meines Orts keineswegs vorbereitet, zu läugnen, daß nicht in dem dunkeln Gebiet, worin ſich die nervöſen Affekte verlaufen, auch beim Revival gelegentlich der Uebergang in das Gebiet wirklich dämoni- ſcher Einwirkungen Statt gefunden haben mag. Jn ſolchen Fällen

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Zitationshilfe: Huber, Victor Aimé: Sieben Briefe über englisches Revival und deutsche Erweckung. Frankfurt (Main), 1862, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_revival_1862/29>, abgerufen am 21.11.2024.