Andernach, die Pfalz, wo die Pfalzgräfinnen ihr Kind- bett halten mußten -- ein unbequemer Einfall, dessen Grund und Wahrheit euch die emphatischen Nach- forscher der deutschen Geschichte zeigen mögen -- ferner das alte Churfürstenmonument, und die Ge- schichten alle des Brudermords, Weiberraubs, Tod- siedens, welche jede einzelne Burg bezeichnen und ih- re ehemaligen Bewohner so wenig an eine vaterlän- dische Geschichte anknüpfen, daß sie eben sowohl auf dem Libanon oder Altai stehen könnten, ohne ein Blatt in Schröck's Geschichte der Deutschen zu ändern -- alle diese Dinge haben mich nicht sehr beschäftigt ne- ben der Magie des scheidenden Sommers. Ich will sie einmal an meinem Schreibpult studiren; dieses Mal reiste ich so in Ahndungen vertieft, als habe ich das ganze Leben noch vor mir -- hatte ichs denn aber nicht? beschränkte es denn der Schauplatz, der mich umgab? war er mir denn nicht Bild des Grenzenlosen in seiner todverkündenden Pracht?
Nicht weit von Bonn begegnete mir ein frommer Umgang, der -- ich weiß nicht, was für ein Gnaden- bild besucht hatte, dessen Altar vor kurzem wieder aufgerichtet war. In diesem Wallfahrtszug ward mir die Abwesenheit der jungen Männer vom 18ten bis 25sten Jahre merklich. Zum Theil mögen sie sich nicht zu den Wallfahrern gesellen, zum Theil
Andernach, die Pfalz, wo die Pfalzgraͤfinnen ihr Kind- bett halten mußten — ein unbequemer Einfall, deſſen Grund und Wahrheit euch die emphatiſchen Nach- forſcher der deutſchen Geſchichte zeigen moͤgen — ferner das alte Churfuͤrſtenmonument, und die Ge- ſchichten alle des Brudermords, Weiberraubs, Tod- ſiedens, welche jede einzelne Burg bezeichnen und ih- re ehemaligen Bewohner ſo wenig an eine vaterlaͤn- diſche Geſchichte anknuͤpfen, daß ſie eben ſowohl auf dem Libanon oder Altai ſtehen koͤnnten, ohne ein Blatt in Schroͤck’s Geſchichte der Deutſchen zu aͤndern — alle dieſe Dinge haben mich nicht ſehr beſchaͤftigt ne- ben der Magie des ſcheidenden Sommers. Ich will ſie einmal an meinem Schreibpult ſtudiren; dieſes Mal reiſte ich ſo in Ahndungen vertieft, als habe ich das ganze Leben noch vor mir — hatte ichs denn aber nicht? beſchraͤnkte es denn der Schauplatz, der mich umgab? war er mir denn nicht Bild des Grenzenloſen in ſeiner todverkuͤndenden Pracht?
Nicht weit von Bonn begegnete mir ein frommer Umgang, der — ich weiß nicht, was fuͤr ein Gnaden- bild beſucht hatte, deſſen Altar vor kurzem wieder aufgerichtet war. In dieſem Wallfahrtszug ward mir die Abweſenheit der jungen Maͤnner vom 18ten bis 25ſten Jahre merklich. Zum Theil moͤgen ſie ſich nicht zu den Wallfahrern geſellen, zum Theil
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Andernach, die Pfalz, wo die Pfalzgraͤfinnen ihr Kind-
bett halten mußten — ein unbequemer Einfall, deſſen
Grund und Wahrheit euch die emphatiſchen Nach-
forſcher der deutſchen Geſchichte zeigen moͤgen —
ferner das alte Churfuͤrſtenmonument, und die Ge-
ſchichten alle des Brudermords, Weiberraubs, Tod-
ſiedens, welche jede einzelne Burg bezeichnen und ih-
re ehemaligen Bewohner ſo wenig an eine vaterlaͤn-
diſche Geſchichte anknuͤpfen, daß ſie eben ſowohl auf
dem Libanon oder Altai ſtehen koͤnnten, ohne ein Blatt
in Schroͤck’s Geſchichte der Deutſchen zu aͤndern —
alle dieſe Dinge haben mich nicht ſehr beſchaͤftigt ne-
ben der Magie des ſcheidenden Sommers. Ich will
ſie einmal an meinem Schreibpult ſtudiren; dieſes
Mal reiſte ich ſo in Ahndungen vertieft, als habe
ich das ganze Leben noch vor mir — hatte ichs denn
aber nicht? beſchraͤnkte es denn der Schauplatz,
der mich umgab? war er mir denn nicht Bild des
Grenzenloſen in ſeiner todverkuͤndenden Pracht?
Nicht weit von Bonn begegnete mir ein frommer
Umgang, der — ich weiß nicht, was fuͤr ein Gnaden-
bild beſucht hatte, deſſen Altar vor kurzem wieder
aufgerichtet war. In dieſem Wallfahrtszug ward
mir die Abweſenheit der jungen Maͤnner vom 18ten
bis 25ſten Jahre merklich. Zum Theil moͤgen ſie
ſich nicht zu den Wallfahrern geſellen, zum Theil
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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/409>, abgerufen am 28.11.2024.
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