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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811.

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viei Gelegenheit haben, das Volk zu beobachten,
und den höhern Ständen nahe genug stehen, oft
so in sie hinüber gehen, durch Vermögen oder Amts-
würde des Mannes, daß wir sie nicht nur beob-
achten, sondern auch auswendig lernen können.
Solchergestalt in Stand gesetzt, alle Mittel zur
Ausbildung eines jungen Menschen, das heißt,
eines Werdenden, zu beurtheilen und zu schätzen,
wird uns das Herz immer schwerer, je günstiger
das Glück -- nach der gemeinen Ansicht -- die
Kindheit des jungen Geschöpfes bedachte. Der
Erbe eines Reichsbarons erloschenen Andenkens --
wie wehmüthig sah ich oft die Knaben zu dem dä-
mischen Capellan wandern, der sie durch einen
pöbelhaften Fluch zum Beten, und mit dem Stock
zum Lernen zwang, bis die Mutter sie mit Zucker-
brodt und Küssen nach der Lexion empfing, der
Vater sie zu seiner Erholung nach der Schnepfen-
jagd mit den Jagdhunden Späßchen machen ließ,
indeß der geistliche Mentor vor ihm kroch, und der
Mutter Haushaltsrechnungen kopirte. Oder denkt
euch anstatt des Capellans einen hungrigen Candi-
daten, dem im Hintergrunde die lang ersehnte
Pfarre, und die Hand der lang verblühten Gou-
vernante der Fräuleins erwartet. -- Modificirt

viei Gelegenheit haben, das Volk zu beobachten,
und den hoͤhern Staͤnden nahe genug ſtehen, oft
ſo in ſie hinuͤber gehen, durch Vermoͤgen oder Amts-
wuͤrde des Mannes, daß wir ſie nicht nur beob-
achten, ſondern auch auswendig lernen koͤnnen.
Solchergeſtalt in Stand geſetzt, alle Mittel zur
Ausbildung eines jungen Menſchen, das heißt,
eines Werdenden, zu beurtheilen und zu ſchaͤtzen,
wird uns das Herz immer ſchwerer, je guͤnſtiger
das Gluͤck — nach der gemeinen Anſicht — die
Kindheit des jungen Geſchoͤpfes bedachte. Der
Erbe eines Reichsbarons erloſchenen Andenkens —
wie wehmuͤthig ſah ich oft die Knaben zu dem daͤ-
miſchen Capellan wandern, der ſie durch einen
poͤbelhaften Fluch zum Beten, und mit dem Stock
zum Lernen zwang, bis die Mutter ſie mit Zucker-
brodt und Kuͤſſen nach der Lexion empfing, der
Vater ſie zu ſeiner Erholung nach der Schnepfen-
jagd mit den Jagdhunden Spaͤßchen machen ließ,
indeß der geiſtliche Mentor vor ihm kroch, und der
Mutter Haushaltsrechnungen kopirte. Oder denkt
euch anſtatt des Capellans einen hungrigen Candi-
daten, dem im Hintergrunde die lang erſehnte
Pfarre, und die Hand der lang verbluͤhten Gou-
vernante der Fraͤuleins erwartet. — Modificirt

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[331/0345] viei Gelegenheit haben, das Volk zu beobachten, und den hoͤhern Staͤnden nahe genug ſtehen, oft ſo in ſie hinuͤber gehen, durch Vermoͤgen oder Amts- wuͤrde des Mannes, daß wir ſie nicht nur beob- achten, ſondern auch auswendig lernen koͤnnen. Solchergeſtalt in Stand geſetzt, alle Mittel zur Ausbildung eines jungen Menſchen, das heißt, eines Werdenden, zu beurtheilen und zu ſchaͤtzen, wird uns das Herz immer ſchwerer, je guͤnſtiger das Gluͤck — nach der gemeinen Anſicht — die Kindheit des jungen Geſchoͤpfes bedachte. Der Erbe eines Reichsbarons erloſchenen Andenkens — wie wehmuͤthig ſah ich oft die Knaben zu dem daͤ- miſchen Capellan wandern, der ſie durch einen poͤbelhaften Fluch zum Beten, und mit dem Stock zum Lernen zwang, bis die Mutter ſie mit Zucker- brodt und Kuͤſſen nach der Lexion empfing, der Vater ſie zu ſeiner Erholung nach der Schnepfen- jagd mit den Jagdhunden Spaͤßchen machen ließ, indeß der geiſtliche Mentor vor ihm kroch, und der Mutter Haushaltsrechnungen kopirte. Oder denkt euch anſtatt des Capellans einen hungrigen Candi- daten, dem im Hintergrunde die lang erſehnte Pfarre, und die Hand der lang verbluͤhten Gou- vernante der Fraͤuleins erwartet. — Modificirt

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Zitationshilfe: Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/345>, abgerufen am 24.11.2024.