Volke, das ich an seinem Heerde besuchte; unter diesen mehr als achtzig Jünglingen herrschte nun auch ausschließend derselbe Karakter, dieselben Um- risse. Schöne offne Stirnen, die Augen a fleur de tite, wie man's zu nennen pflegt, einen regel- mäßigen Mund, ein mäunliches Kinn, eine scharf gezeichnete Nase -- aber die Wangen stets zu lang -- ich kann es nicht anders ausdrücken. Allein diese Störung ausgeschlossen, die erst in spätern Jahren durch die Erschlaffung der Muskeln schäd- lich wird, sprachen diese Gesichter alle bildsame, von der Natur mildbegabte Menschen aus. Ihr schöner Wuchs, ihre ansehnliche Größe, ihre blü- hende Gesichtsfarbe, bewies die Zweckmäßigkeit ihrer phisischen Pflege. Sie fielen lustig über die rauchenden Schüsseln her, welche mir von dem schneeweißen Tischtuch recht angenehm entgegen dufteten. Der Nahrung mußte vollauf seyn, denn wie die Gesellschaft den Tisch verließ, sah ich noch mehrere Schüsseln ungeleert stehen. Nach anstän- dig abgewartetem Gebet, das einer der Lehrer laut und freundlich vortrug, stürmte ein Theil in den Gar- ten, ein anderer Theil brachte die Erholungsstunde in den Schlafsälen, oder in andern Zimmern des Hauses zu. An bestimmten Stunden gehen sie
Volke, das ich an ſeinem Heerde beſuchte; unter dieſen mehr als achtzig Juͤnglingen herrſchte nun auch ausſchließend derſelbe Karakter, dieſelben Um- riſſe. Schoͤne offne Stirnen, die Augen à fleur de tite, wie man’s zu nennen pflegt, einen regel- maͤßigen Mund, ein maͤunliches Kinn, eine ſcharf gezeichnete Naſe — aber die Wangen ſtets zu lang — ich kann es nicht anders ausdruͤcken. Allein dieſe Stoͤrung ausgeſchloſſen, die erſt in ſpaͤtern Jahren durch die Erſchlaffung der Muskeln ſchaͤd- lich wird, ſprachen dieſe Geſichter alle bildſame, von der Natur mildbegabte Menſchen aus. Ihr ſchoͤner Wuchs, ihre anſehnliche Groͤße, ihre bluͤ- hende Geſichtsfarbe, bewies die Zweckmaͤßigkeit ihrer phiſiſchen Pflege. Sie fielen luſtig uͤber die rauchenden Schuͤſſeln her, welche mir von dem ſchneeweißen Tiſchtuch recht angenehm entgegen dufteten. Der Nahrung mußte vollauf ſeyn, denn wie die Geſellſchaft den Tiſch verließ, ſah ich noch mehrere Schuͤſſeln ungeleert ſtehen. Nach anſtaͤn- dig abgewartetem Gebet, das einer der Lehrer laut und freundlich vortrug, ſtuͤrmte ein Theil in den Gar- ten, ein anderer Theil brachte die Erholungsſtunde in den Schlafſaͤlen, oder in andern Zimmern des Hauſes zu. An beſtimmten Stunden gehen ſie
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Volke, das ich an ſeinem Heerde beſuchte; unter
dieſen mehr als achtzig Juͤnglingen herrſchte nun
auch ausſchließend derſelbe Karakter, dieſelben Um-
riſſe. Schoͤne offne Stirnen, die Augen à fleur de
tite, wie man’s zu nennen pflegt, einen regel-
maͤßigen Mund, ein maͤunliches Kinn, eine ſcharf
gezeichnete Naſe — aber die Wangen ſtets zu lang
— ich kann es nicht anders ausdruͤcken. Allein
dieſe Stoͤrung ausgeſchloſſen, die erſt in ſpaͤtern
Jahren durch die Erſchlaffung der Muskeln ſchaͤd-
lich wird, ſprachen dieſe Geſichter alle bildſame,
von der Natur mildbegabte Menſchen aus. Ihr
ſchoͤner Wuchs, ihre anſehnliche Groͤße, ihre bluͤ-
hende Geſichtsfarbe, bewies die Zweckmaͤßigkeit
ihrer phiſiſchen Pflege. Sie fielen luſtig uͤber die
rauchenden Schuͤſſeln her, welche mir von dem
ſchneeweißen Tiſchtuch recht angenehm entgegen
dufteten. Der Nahrung mußte vollauf ſeyn, denn
wie die Geſellſchaft den Tiſch verließ, ſah ich noch
mehrere Schuͤſſeln ungeleert ſtehen. Nach anſtaͤn-
dig abgewartetem Gebet, das einer der Lehrer laut
und freundlich vortrug, ſtuͤrmte ein Theil in den Gar-
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Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/336>, abgerufen am 28.11.2024.
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