Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Zwei Augenblicke stand Gigia rathlos, dann kehrte sie um, aber nicht um wieder ins Haus zu treten, sondern vom Vorplatz aus schwang sie sich über die Mauer in den Weinberg und gewann den Pfad, der durch die von Gigia's Brüdern bebauten Ländereien ins Thal fiel. Auf diesem Pfade eilte sie hinunter; mehr als einmal stieß sie in der Dunkelheit wider die rebenumrankten Pappelstämmchen, aber sie ließ sich nicht aufhalten. Nun kam sie der Landstraße nahe, welche sie unter allen Umständen zu überschreiten hatte. Wahrscheinlich war es nicht, daß die ausgestellten Wachen ihre Aufmerksa[m]keit bis hierher richteten, denn Gigia hatte sich weit genug links gehalten, daß zwischen der Stelle, wo sie die Straße zu kreuzen gedachte, und dem Orte, wo die beiden Burschen in der Richtung nach Valtella ausschauten, ein gehöriges Stück und dazu eine Krümmung der Straße lag. Aber wenn man sie doch hörte --? Leise, leise, die Hand auf der klopfenden Brust, huschte sie über die Straße, dann drüben den Abhang hinunter, zwischen den Büschen des Ginsters und der wilden Rosen sich durchwindend; jetzt und jetzt wieder strauchelte sie über die Steine, jetzt mußte sie sich an den Zweigen halten und achtete nicht, daß sie ihr die Hände blutig rissen, und dabei hörte ihr angstvolles Herz nicht auf zu schlagen, als wollte es zerspringen. Nun endlich war sie unten in der Schlucht angelangt, wo der Bach über die Klippen und viele künstliche Wehre brauste. Glücklicher Weise kam ihr Zwei Augenblicke stand Gigia rathlos, dann kehrte sie um, aber nicht um wieder ins Haus zu treten, sondern vom Vorplatz aus schwang sie sich über die Mauer in den Weinberg und gewann den Pfad, der durch die von Gigia's Brüdern bebauten Ländereien ins Thal fiel. Auf diesem Pfade eilte sie hinunter; mehr als einmal stieß sie in der Dunkelheit wider die rebenumrankten Pappelstämmchen, aber sie ließ sich nicht aufhalten. Nun kam sie der Landstraße nahe, welche sie unter allen Umständen zu überschreiten hatte. Wahrscheinlich war es nicht, daß die ausgestellten Wachen ihre Aufmerksa[m]keit bis hierher richteten, denn Gigia hatte sich weit genug links gehalten, daß zwischen der Stelle, wo sie die Straße zu kreuzen gedachte, und dem Orte, wo die beiden Burschen in der Richtung nach Valtella ausschauten, ein gehöriges Stück und dazu eine Krümmung der Straße lag. Aber wenn man sie doch hörte —? Leise, leise, die Hand auf der klopfenden Brust, huschte sie über die Straße, dann drüben den Abhang hinunter, zwischen den Büschen des Ginsters und der wilden Rosen sich durchwindend; jetzt und jetzt wieder strauchelte sie über die Steine, jetzt mußte sie sich an den Zweigen halten und achtete nicht, daß sie ihr die Hände blutig rissen, und dabei hörte ihr angstvolles Herz nicht auf zu schlagen, als wollte es zerspringen. Nun endlich war sie unten in der Schlucht angelangt, wo der Bach über die Klippen und viele künstliche Wehre brauste. Glücklicher Weise kam ihr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0068"/> Zwei Augenblicke stand Gigia rathlos, dann kehrte sie um, aber nicht um wieder ins Haus zu treten, sondern vom Vorplatz aus schwang sie sich über die Mauer in den Weinberg und gewann den Pfad, der durch die von Gigia's Brüdern bebauten Ländereien ins Thal fiel. Auf diesem Pfade eilte sie hinunter; mehr als einmal stieß sie in der Dunkelheit wider die rebenumrankten Pappelstämmchen, aber sie ließ sich nicht aufhalten. Nun kam sie der Landstraße nahe, welche sie unter allen Umständen zu überschreiten hatte. Wahrscheinlich war es nicht, daß die ausgestellten Wachen ihre Aufmerksa<supplied>m</supplied>keit bis hierher richteten, denn Gigia hatte sich weit genug links gehalten, daß zwischen der Stelle, wo sie die Straße zu kreuzen gedachte, und dem Orte, wo die beiden Burschen in der Richtung nach Valtella ausschauten, ein gehöriges Stück und dazu eine Krümmung der Straße lag. Aber wenn man sie doch hörte —? Leise, leise, die Hand auf der klopfenden Brust, huschte sie über die Straße, dann drüben den Abhang hinunter, zwischen den Büschen des Ginsters und der wilden Rosen sich durchwindend; jetzt und jetzt wieder strauchelte sie über die Steine, jetzt mußte sie sich an den Zweigen halten und achtete nicht, daß sie ihr die Hände blutig rissen, und dabei hörte ihr angstvolles Herz nicht auf zu schlagen, als wollte es zerspringen. Nun endlich war sie unten in der Schlucht angelangt, wo der Bach über die Klippen und viele künstliche Wehre brauste. Glücklicher Weise kam ihr<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0068]
Zwei Augenblicke stand Gigia rathlos, dann kehrte sie um, aber nicht um wieder ins Haus zu treten, sondern vom Vorplatz aus schwang sie sich über die Mauer in den Weinberg und gewann den Pfad, der durch die von Gigia's Brüdern bebauten Ländereien ins Thal fiel. Auf diesem Pfade eilte sie hinunter; mehr als einmal stieß sie in der Dunkelheit wider die rebenumrankten Pappelstämmchen, aber sie ließ sich nicht aufhalten. Nun kam sie der Landstraße nahe, welche sie unter allen Umständen zu überschreiten hatte. Wahrscheinlich war es nicht, daß die ausgestellten Wachen ihre Aufmerksamkeit bis hierher richteten, denn Gigia hatte sich weit genug links gehalten, daß zwischen der Stelle, wo sie die Straße zu kreuzen gedachte, und dem Orte, wo die beiden Burschen in der Richtung nach Valtella ausschauten, ein gehöriges Stück und dazu eine Krümmung der Straße lag. Aber wenn man sie doch hörte —? Leise, leise, die Hand auf der klopfenden Brust, huschte sie über die Straße, dann drüben den Abhang hinunter, zwischen den Büschen des Ginsters und der wilden Rosen sich durchwindend; jetzt und jetzt wieder strauchelte sie über die Steine, jetzt mußte sie sich an den Zweigen halten und achtete nicht, daß sie ihr die Hände blutig rissen, und dabei hörte ihr angstvolles Herz nicht auf zu schlagen, als wollte es zerspringen. Nun endlich war sie unten in der Schlucht angelangt, wo der Bach über die Klippen und viele künstliche Wehre brauste. Glücklicher Weise kam ihr
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910/68 |
Zitationshilfe: | Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910/68>, abgerufen am 16.02.2025. |