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Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Donna Ersilia wurde an diesem Abend im Kreise ihrer Gäste zweimal auf einer Zerstreutheit betroffen, und als man die Köpfe schüttelte und scherzhafte Vermuthungen anstellte über dieses durchaus ungewöhnliche Vorkommniß, da erwiderte sie lächelnd: Auch der beste Pflüger hat seinen Tag, an dem er schiefe Furchen zieht.

Es war ihr gar nicht wohl zu Muth. Niemand pflegte milder zu urtheilen über fremde Fehler als sie; aber Niemand fand sich schwerer in die Wahrnehmungen, daß es Geschöpfe giebt, deren fehlerhafte Anlage die Natur selbst verschuldet hat, und deren angeborne Lücken kein eigner noch Anderer Wille auszufüllen vermag. Die Wahrnehmung paßte nicht zu ihrer Anschauung von Gott und der Welt. Es dünkte ihr sehr recht, daß die Menschen nicht vollkommen geboren würden: ihrem Thätigkeitsbedürfniß hätte eine Menschheit, an welcher sich nichts bessern, zu deren Wohl und Glück sich nichts beitragen ließ, nimmermehr entsprochen. Auf! auf! so lautet ihr Wahlspruch. Aber es paßte ihr nur ein solches Maß von Fehlerhaftigkeit als mit eigener Anstrengung und fremdem Beistand allgemach zu bewältigen war. Daß da Seelen seien, so arm, daß sie die eigne Armuth nicht empfinden, so verlassen, daß sie von ihrer Einsamkeit nichts wissen, so lieblos, daß sie sich nach keiner Liebe sehnen, das war für Donna Ersilia ein so unverständliches, ein so peinliches Räthsel, als es etwa für einen Physiker ein dem Gesetz der Schwere entzogener Körper wäre. Und solch einen Widerspruch

Donna Ersilia wurde an diesem Abend im Kreise ihrer Gäste zweimal auf einer Zerstreutheit betroffen, und als man die Köpfe schüttelte und scherzhafte Vermuthungen anstellte über dieses durchaus ungewöhnliche Vorkommniß, da erwiderte sie lächelnd: Auch der beste Pflüger hat seinen Tag, an dem er schiefe Furchen zieht.

Es war ihr gar nicht wohl zu Muth. Niemand pflegte milder zu urtheilen über fremde Fehler als sie; aber Niemand fand sich schwerer in die Wahrnehmungen, daß es Geschöpfe giebt, deren fehlerhafte Anlage die Natur selbst verschuldet hat, und deren angeborne Lücken kein eigner noch Anderer Wille auszufüllen vermag. Die Wahrnehmung paßte nicht zu ihrer Anschauung von Gott und der Welt. Es dünkte ihr sehr recht, daß die Menschen nicht vollkommen geboren würden: ihrem Thätigkeitsbedürfniß hätte eine Menschheit, an welcher sich nichts bessern, zu deren Wohl und Glück sich nichts beitragen ließ, nimmermehr entsprochen. Auf! auf! so lautet ihr Wahlspruch. Aber es paßte ihr nur ein solches Maß von Fehlerhaftigkeit als mit eigener Anstrengung und fremdem Beistand allgemach zu bewältigen war. Daß da Seelen seien, so arm, daß sie die eigne Armuth nicht empfinden, so verlassen, daß sie von ihrer Einsamkeit nichts wissen, so lieblos, daß sie sich nach keiner Liebe sehnen, das war für Donna Ersilia ein so unverständliches, ein so peinliches Räthsel, als es etwa für einen Physiker ein dem Gesetz der Schwere entzogener Körper wäre. Und solch einen Widerspruch

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[0062] Donna Ersilia wurde an diesem Abend im Kreise ihrer Gäste zweimal auf einer Zerstreutheit betroffen, und als man die Köpfe schüttelte und scherzhafte Vermuthungen anstellte über dieses durchaus ungewöhnliche Vorkommniß, da erwiderte sie lächelnd: Auch der beste Pflüger hat seinen Tag, an dem er schiefe Furchen zieht. Es war ihr gar nicht wohl zu Muth. Niemand pflegte milder zu urtheilen über fremde Fehler als sie; aber Niemand fand sich schwerer in die Wahrnehmungen, daß es Geschöpfe giebt, deren fehlerhafte Anlage die Natur selbst verschuldet hat, und deren angeborne Lücken kein eigner noch Anderer Wille auszufüllen vermag. Die Wahrnehmung paßte nicht zu ihrer Anschauung von Gott und der Welt. Es dünkte ihr sehr recht, daß die Menschen nicht vollkommen geboren würden: ihrem Thätigkeitsbedürfniß hätte eine Menschheit, an welcher sich nichts bessern, zu deren Wohl und Glück sich nichts beitragen ließ, nimmermehr entsprochen. Auf! auf! so lautet ihr Wahlspruch. Aber es paßte ihr nur ein solches Maß von Fehlerhaftigkeit als mit eigener Anstrengung und fremdem Beistand allgemach zu bewältigen war. Daß da Seelen seien, so arm, daß sie die eigne Armuth nicht empfinden, so verlassen, daß sie von ihrer Einsamkeit nichts wissen, so lieblos, daß sie sich nach keiner Liebe sehnen, das war für Donna Ersilia ein so unverständliches, ein so peinliches Räthsel, als es etwa für einen Physiker ein dem Gesetz der Schwere entzogener Körper wäre. Und solch einen Widerspruch

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:13:28Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:13:28Z)

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Zitationshilfe: Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910/62>, abgerufen am 23.11.2024.