Wissen verehren. Lieb freilich wäre es ihm gewesen, hätte sie sich offenherziger gegen ihn erweisen, hätte sie ihm, der ja doch sein ganzes Leben ehrlich und rücksichtslos vor ihr entfaltete, auch bisweilen einen Blick in ihre Vergangenheit gönnen wollen. Eine Vergangenheit, die gewiß höchst interessant und von bedeutenden Erlebnissen, Erfahrungen, Schicksalen voll war. Doch darin blieb sie unerbittlich: sie wich jeder Mittheilung darüber aus und verwies den Fra- genden stets auf ihren baldigen Tod. Dann, pflegte sie zu sagen, wenn ich auf der Bahre liege, wird mein Leben klar vor Antons Blicken liegen; eher nicht, lie- ber junger Freund! Sie sollen mir gut sein und blei- ben, so lange ich noch athme. Wer weiß, ob dies der Fall wäre, wenn Sie mein Dasein genau durchschau- ten! Gönnen Sie der Kranken den Schleier, der ihre traurigen Geheimnisse birgt. Bin ich erlöset von der Last meines gebrechlichen Leibes, bin ich todt, so wer- den Sie, das weiß, das hoff' ich, mir und meinem Andenken eine Thräne des Mitgefühls widmen und diese Thräne wird jene schwarzen Flecken verlöschen, welche meine Schriftzüge enthüllen sollen. Bis dahin halten Sie mich für eine Bedauernswürdige, die viel gefehlt hat, die schwer büßen mußte, die Jhnen aber
Wiſſen verehren. Lieb freilich waͤre es ihm geweſen, haͤtte ſie ſich offenherziger gegen ihn erweiſen, haͤtte ſie ihm, der ja doch ſein ganzes Leben ehrlich und ruͤckſichtslos vor ihr entfaltete, auch bisweilen einen Blick in ihre Vergangenheit goͤnnen wollen. Eine Vergangenheit, die gewiß hoͤchſt intereſſant und von bedeutenden Erlebniſſen, Erfahrungen, Schickſalen voll war. Doch darin blieb ſie unerbittlich: ſie wich jeder Mittheilung daruͤber aus und verwies den Fra- genden ſtets auf ihren baldigen Tod. Dann, pflegte ſie zu ſagen, wenn ich auf der Bahre liege, wird mein Leben klar vor Antons Blicken liegen; eher nicht, lie- ber junger Freund! Sie ſollen mir gut ſein und blei- ben, ſo lange ich noch athme. Wer weiß, ob dies der Fall waͤre, wenn Sie mein Daſein genau durchſchau- ten! Goͤnnen Sie der Kranken den Schleier, der ihre traurigen Geheimniſſe birgt. Bin ich erloͤſet von der Laſt meines gebrechlichen Leibes, bin ich todt, ſo wer- den Sie, das weiß, das hoff’ ich, mir und meinem Andenken eine Thraͤne des Mitgefuͤhls widmen und dieſe Thraͤne wird jene ſchwarzen Flecken verloͤſchen, welche meine Schriftzuͤge enthuͤllen ſollen. Bis dahin halten Sie mich fuͤr eine Bedauernswuͤrdige, die viel gefehlt hat, die ſchwer buͤßen mußte, die Jhnen aber
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Wiſſen verehren. Lieb freilich waͤre es ihm geweſen,
haͤtte ſie ſich offenherziger gegen ihn erweiſen, haͤtte
ſie ihm, der ja doch ſein ganzes Leben ehrlich und
ruͤckſichtslos vor ihr entfaltete, auch bisweilen einen
Blick in ihre Vergangenheit goͤnnen wollen. Eine
Vergangenheit, die gewiß hoͤchſt intereſſant und von
bedeutenden Erlebniſſen, Erfahrungen, Schickſalen
voll war. Doch darin blieb ſie unerbittlich: ſie wich
jeder Mittheilung daruͤber aus und verwies den Fra-
genden ſtets auf ihren baldigen Tod. Dann, pflegte
ſie zu ſagen, wenn ich auf der Bahre liege, wird mein
Leben klar vor Antons Blicken liegen; eher nicht, lie-
ber junger Freund! Sie ſollen mir gut ſein und blei-
ben, ſo lange ich noch athme. Wer weiß, ob dies der
Fall waͤre, wenn Sie mein Daſein genau durchſchau-
ten! Goͤnnen Sie der Kranken den Schleier, der ihre
traurigen Geheimniſſe birgt. Bin ich erloͤſet von der
Laſt meines gebrechlichen Leibes, bin ich todt, ſo wer-
den Sie, das weiß, das hoff’ ich, mir und meinem
Andenken eine Thraͤne des Mitgefuͤhls widmen und
dieſe Thraͤne wird jene ſchwarzen Flecken verloͤſchen,
welche meine Schriftzuͤge enthuͤllen ſollen. Bis dahin
halten Sie mich fuͤr eine Bedauernswuͤrdige, die viel
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/198>, abgerufen am 24.11.2024.
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