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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852.

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worden sie Tage doppelter Anstrengung. Denn aus
den geschlossenen städtischen Schulen ergossen sich frei-
gelassene Schüler in Strömen nach allen Richtungen
ihrer ländlichen Heimath; und wär' es den wilden
Knaben zu heiß gewesen, im engen Raume des Gym-
nasiums über alten Autoren zu sitzen, so konnte die
glühendste Sonne doch keine Temperatur zu Stande
bringen, welche das bewegliche Völkchen verhindert
hätte, sich mit Mühmchen, Basen und Schwestern
herumzuschwenken. Die Tanzlektionen kamen nun
erst recht in Gang. Monsieur Mirabel hatte alle
Hände und Füße voll zu thun. Diesen gewaltsamen
Anstrengungen war der alte Herr nicht mehr gewach-
sen. Jn einer Nachmittagsstunde, wo der Thermo-
meter nach Reaumür einundzwanzig Grad über Null
im Schatten deklarirte, rührte den Unermüdlichen der
Schlag. Der Dorfbader ließ das Blut des wohl-
beleibten Greises zwar schonungslos fließen, -- doch
vergebens. Herr Lemonier-Mirabel de la Garde,
de la Tour d'Auvergne
verhauchte sein hundert-
jähriges Leben im Kreise staunender Schuljungen,
die ihn mit feuchten Augen umstanden, denn sie
hatten den alten Narren gern gehabt. Die letzten
Worte des Sterbenden waren: "main droite!

worden ſie Tage doppelter Anſtrengung. Denn aus
den geſchloſſenen ſtaͤdtiſchen Schulen ergoſſen ſich frei-
gelaſſene Schuͤler in Stroͤmen nach allen Richtungen
ihrer laͤndlichen Heimath; und waͤr’ es den wilden
Knaben zu heiß geweſen, im engen Raume des Gym-
naſiums uͤber alten Autoren zu ſitzen, ſo konnte die
gluͤhendſte Sonne doch keine Temperatur zu Stande
bringen, welche das bewegliche Voͤlkchen verhindert
haͤtte, ſich mit Muͤhmchen, Baſen und Schweſtern
herumzuſchwenken. Die Tanzlektionen kamen nun
erſt recht in Gang. Monſieur Mirabel hatte alle
Haͤnde und Fuͤße voll zu thun. Dieſen gewaltſamen
Anſtrengungen war der alte Herr nicht mehr gewach-
ſen. Jn einer Nachmittagsſtunde, wo der Thermo-
meter nach Réaumuͤr einundzwanzig Grad uͤber Null
im Schatten deklarirte, ruͤhrte den Unermuͤdlichen der
Schlag. Der Dorfbader ließ das Blut des wohl-
beleibten Greiſes zwar ſchonungslos fließen, — doch
vergebens. Herr Lemonier-Mirabel de la Garde,
de la Tour d’Auvergne
verhauchte ſein hundert-
jaͤhriges Leben im Kreiſe ſtaunender Schuljungen,
die ihn mit feuchten Augen umſtanden, denn ſie
hatten den alten Narren gern gehabt. Die letzten
Worte des Sterbenden waren: „main droite!

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[157/0161] worden ſie Tage doppelter Anſtrengung. Denn aus den geſchloſſenen ſtaͤdtiſchen Schulen ergoſſen ſich frei- gelaſſene Schuͤler in Stroͤmen nach allen Richtungen ihrer laͤndlichen Heimath; und waͤr’ es den wilden Knaben zu heiß geweſen, im engen Raume des Gym- naſiums uͤber alten Autoren zu ſitzen, ſo konnte die gluͤhendſte Sonne doch keine Temperatur zu Stande bringen, welche das bewegliche Voͤlkchen verhindert haͤtte, ſich mit Muͤhmchen, Baſen und Schweſtern herumzuſchwenken. Die Tanzlektionen kamen nun erſt recht in Gang. Monſieur Mirabel hatte alle Haͤnde und Fuͤße voll zu thun. Dieſen gewaltſamen Anſtrengungen war der alte Herr nicht mehr gewach- ſen. Jn einer Nachmittagsſtunde, wo der Thermo- meter nach Réaumuͤr einundzwanzig Grad uͤber Null im Schatten deklarirte, ruͤhrte den Unermuͤdlichen der Schlag. Der Dorfbader ließ das Blut des wohl- beleibten Greiſes zwar ſchonungslos fließen, — doch vergebens. Herr Lemonier-Mirabel de la Garde, de la Tour d’Auvergne verhauchte ſein hundert- jaͤhriges Leben im Kreiſe ſtaunender Schuljungen, die ihn mit feuchten Augen umſtanden, denn ſie hatten den alten Narren gern gehabt. Die letzten Worte des Sterbenden waren: „main droite!

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Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/161>, abgerufen am 24.11.2024.