Merkwürdig, dem ist nicht so. Niemals verfliegen die Tage rascher, als in solchem Zustande. Es ist, wie wenn auch die Zeit vom Fieber des Patienten ange- steckt, ihren Pulsschlag mit dem seinen verdoppelte, um nur bald wieder zu der Stunde der Weihe zu gelangen.
Was Wunder, wenn drei Monde so geschwind für Anton wechselten, daß er, als sie dahin waren, nur vierundzwanzig Stunden durchlebt zu haben wähnte! Denn vierundzwanzig Stunden hatte Herr Mirabel den jungen Mädchen im Hause der Majorswittwe ertheilt; vierundzwanzigmal hatte Anton seinen Bo- gen daselbst geführt; vierundzwanzigmal hat er Hed- wig gesehen. Und nun schlägt die letzte dieser seligen Stunden, und drei Monate scheinen ein einziger Tag gewesen zu sein!
Sagt mir, was ihr wollt und könnt, ihr Vertreter des wirklichen, genießenden Lebens; die höchste Wonne unseres Daseins liegt doch in Dem, was wir lieben, weil es schön ist, weil wir es lieben müssen, ohne Hoffnung, ohne Wunsch des Besitzes. Sehnsucht ohne Absicht -- das ist Liebe. Alles Andere ist -- etwas Anderes.
Als die letzte Lektion beendet war, überreichten
Merkwuͤrdig, dem iſt nicht ſo. Niemals verfliegen die Tage raſcher, als in ſolchem Zuſtande. Es iſt, wie wenn auch die Zeit vom Fieber des Patienten ange- ſteckt, ihren Pulsſchlag mit dem ſeinen verdoppelte, um nur bald wieder zu der Stunde der Weihe zu gelangen.
Was Wunder, wenn drei Monde ſo geſchwind fuͤr Anton wechſelten, daß er, als ſie dahin waren, nur vierundzwanzig Stunden durchlebt zu haben waͤhnte! Denn vierundzwanzig Stunden hatte Herr Mirabel den jungen Maͤdchen im Hauſe der Majorswittwe ertheilt; vierundzwanzigmal hatte Anton ſeinen Bo- gen daſelbſt gefuͤhrt; vierundzwanzigmal hat er Hed- wig geſehen. Und nun ſchlaͤgt die letzte dieſer ſeligen Stunden, und drei Monate ſcheinen ein einziger Tag geweſen zu ſein!
Sagt mir, was ihr wollt und koͤnnt, ihr Vertreter des wirklichen, genießenden Lebens; die hoͤchſte Wonne unſeres Daſeins liegt doch in Dem, was wir lieben, weil es ſchoͤn iſt, weil wir es lieben muͤſſen, ohne Hoffnung, ohne Wunſch des Beſitzes. Sehnſucht ohne Abſicht — das iſt Liebe. Alles Andere iſt — etwas Anderes.
Als die letzte Lektion beendet war, uͤberreichten
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Merkwuͤrdig, dem iſt nicht ſo. Niemals verfliegen die
Tage raſcher, als in ſolchem Zuſtande. Es iſt, wie
wenn auch die Zeit vom Fieber des Patienten ange-
ſteckt, ihren Pulsſchlag mit dem ſeinen verdoppelte,
um nur bald wieder zu der Stunde der Weihe zu
gelangen.
Was Wunder, wenn drei Monde ſo geſchwind fuͤr
Anton wechſelten, daß er, als ſie dahin waren, nur
vierundzwanzig Stunden durchlebt zu haben waͤhnte!
Denn vierundzwanzig Stunden hatte Herr Mirabel
den jungen Maͤdchen im Hauſe der Majorswittwe
ertheilt; vierundzwanzigmal hatte Anton ſeinen Bo-
gen daſelbſt gefuͤhrt; vierundzwanzigmal hat er Hed-
wig geſehen. Und nun ſchlaͤgt die letzte dieſer ſeligen
Stunden, und drei Monate ſcheinen ein einziger Tag
geweſen zu ſein!
Sagt mir, was ihr wollt und koͤnnt, ihr Vertreter
des wirklichen, genießenden Lebens; die hoͤchſte Wonne
unſeres Daſeins liegt doch in Dem, was wir lieben,
weil es ſchoͤn iſt, weil wir es lieben muͤſſen, ohne
Hoffnung, ohne Wunſch des Beſitzes. Sehnſucht ohne
Abſicht — das iſt Liebe. Alles Andere iſt — etwas
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 3. Breslau, 1852, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden03_1852/155>, abgerufen am 05.07.2024.
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