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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 2. Breslau, 1852.

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ben, ihm war es unmöglich, die edle Zeit, die er stets
würdig benützt, unausgefüllt zu lassen. Fortwährend
schnitt er Gesichter, studirte auf neue Erfindungen,
übte sich, bei Tag und Nacht, wie wenn er ein Anfän-
ger wäre. Endlich, in der letzten Nacht, leistete er
etwas Grandioses: beide Augen preßte er weit aus
dem Kopfe, den Mund riß er mit seinen schwachen
Händen auseinander bis an die Ohren, die lange
schön gebaute Zunge streckte er heraus und legte sie
an die Nase, wie ein Mensch, der über etwas Wichti-
ges nachzusinnen hat, den Zeigefinger nur immer an
die Nase legen mag, so lang, so rund, so dünn ...
Vater, rief ich, Sie übertreffen sich selbst, aber scho-
nen Sie sich. Jch nahm ihm die Hände vom Munde
-- der Mund blieb wie er war, die Winkel bei den
Ohren, -- die Augen blieben hängen, -- die Zunge
blieb liegen. Bravo, rief ich, bravissimo! Er hörte
mein Lob nicht mehr. Er war todt. Wir haben
ihn beerdiget, sammt seiner letzten Kunstleistung und
bleibt nur zu bedauern, daß diese von Würmern zer-
stört werden soll. So war ich denn, obgleich ein
Riese, dennoch eine elternlose Waise und zog allein
weiter. Aber es haftete kein rechter Se[e]gen mehr am
Riese-sein. Weiß der Henker, woher sie kamen?

ben, ihm war es unmoͤglich, die edle Zeit, die er ſtets
wuͤrdig benuͤtzt, unausgefuͤllt zu laſſen. Fortwaͤhrend
ſchnitt er Geſichter, ſtudirte auf neue Erfindungen,
uͤbte ſich, bei Tag und Nacht, wie wenn er ein Anfaͤn-
ger waͤre. Endlich, in der letzten Nacht, leiſtete er
etwas Grandioſes: beide Augen preßte er weit aus
dem Kopfe, den Mund riß er mit ſeinen ſchwachen
Haͤnden auseinander bis an die Ohren, die lange
ſchoͤn gebaute Zunge ſtreckte er heraus und legte ſie
an die Naſe, wie ein Menſch, der uͤber etwas Wichti-
ges nachzuſinnen hat, den Zeigefinger nur immer an
die Naſe legen mag, ſo lang, ſo rund, ſo duͤnn ...
Vater, rief ich, Sie uͤbertreffen ſich ſelbſt, aber ſcho-
nen Sie ſich. Jch nahm ihm die Haͤnde vom Munde
— der Mund blieb wie er war, die Winkel bei den
Ohren, — die Augen blieben haͤngen, — die Zunge
blieb liegen. Bravo, rief ich, braviſſimo! Er hoͤrte
mein Lob nicht mehr. Er war todt. Wir haben
ihn beerdiget, ſammt ſeiner letzten Kunſtleiſtung und
bleibt nur zu bedauern, daß dieſe von Wuͤrmern zer-
ſtoͤrt werden ſoll. So war ich denn, obgleich ein
Rieſe, dennoch eine elternloſe Waiſe und zog allein
weiter. Aber es haftete kein rechter Se[e]gen mehr am
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[146/0148] ben, ihm war es unmoͤglich, die edle Zeit, die er ſtets wuͤrdig benuͤtzt, unausgefuͤllt zu laſſen. Fortwaͤhrend ſchnitt er Geſichter, ſtudirte auf neue Erfindungen, uͤbte ſich, bei Tag und Nacht, wie wenn er ein Anfaͤn- ger waͤre. Endlich, in der letzten Nacht, leiſtete er etwas Grandioſes: beide Augen preßte er weit aus dem Kopfe, den Mund riß er mit ſeinen ſchwachen Haͤnden auseinander bis an die Ohren, die lange ſchoͤn gebaute Zunge ſtreckte er heraus und legte ſie an die Naſe, wie ein Menſch, der uͤber etwas Wichti- ges nachzuſinnen hat, den Zeigefinger nur immer an die Naſe legen mag, ſo lang, ſo rund, ſo duͤnn ... Vater, rief ich, Sie uͤbertreffen ſich ſelbſt, aber ſcho- nen Sie ſich. Jch nahm ihm die Haͤnde vom Munde — der Mund blieb wie er war, die Winkel bei den Ohren, — die Augen blieben haͤngen, — die Zunge blieb liegen. Bravo, rief ich, braviſſimo! Er hoͤrte mein Lob nicht mehr. Er war todt. Wir haben ihn beerdiget, ſammt ſeiner letzten Kunſtleiſtung und bleibt nur zu bedauern, daß dieſe von Wuͤrmern zer- ſtoͤrt werden ſoll. So war ich denn, obgleich ein Rieſe, dennoch eine elternloſe Waiſe und zog allein weiter. Aber es haftete kein rechter Seegen mehr am Rieſe-ſein. Weiß der Henker, woher ſie kamen?

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Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 2. Breslau, 1852, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden02_1852/148>, abgerufen am 25.11.2024.