Anton fand sich am meisten ergriffen durch das Wort: "wahre Künstlernatur." Hatte nicht sein seli- ger Großvater wie die alte Mutter Goksch ihm gestern Abend erzählt, das liebe unglückliche Töchterlein, die schöne Antoinette in väterlichem Stolze oftmalen also genannt? Und der fremde Meister mit italienischem Namen nannte sich selbst so und daneben einen "argen Lump?" Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau nie gebrauchen hörte, dessen Bedeutung ihm aber klar schien. Müssen denn alle wahren Küstlernatu- ren, so dachte er bei diesem Vergleich, andere Leute sein, wie die anderen Leute? Dann ergriff er seine saitenlose Geige; kniff sie verächtlich unter den linken Arm; küßte Onkel Nasus die Hand; empfahl sich seinem neuen Gönner, der aus der feierlichen bereits wieder in die durstige Stimmung übergegangen war; verneigte sich vor dem Herrn Pastor, vor Linz wie Miez; nickte dem Puschel und dem Rubs gute Nacht; und schlich, betrübt, Ottilien nicht mehr zu gewahren, aus der Laube. Als er jedoch beim Ausgange dersel- ben noch einmal die Augen zurückwendete, sah er sie hinter dem Hausthürflügel hervorgucken und es schien ihm, als ob sie ihm einen Fingerkuß nachsende. Doch strafte er seine Augen Lügen und suchte sich selbst ein-
Anton fand ſich am meiſten ergriffen durch das Wort: „wahre Kuͤnſtlernatur.“ Hatte nicht ſein ſeli- ger Großvater wie die alte Mutter Gokſch ihm geſtern Abend erzaͤhlt, das liebe ungluͤckliche Toͤchterlein, die ſchoͤne Antoinette in vaͤterlichem Stolze oftmalen alſo genannt? Und der fremde Meiſter mit italieniſchem Namen nannte ſich ſelbſt ſo und daneben einen „argen Lump?“ Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau nie gebrauchen hoͤrte, deſſen Bedeutung ihm aber klar ſchien. Muͤſſen denn alle wahren Kuͤſtlernatu- ren, ſo dachte er bei dieſem Vergleich, andere Leute ſein, wie die anderen Leute? Dann ergriff er ſeine ſaitenloſe Geige; kniff ſie veraͤchtlich unter den linken Arm; kuͤßte Onkel Naſus die Hand; empfahl ſich ſeinem neuen Goͤnner, der aus der feierlichen bereits wieder in die durſtige Stimmung uͤbergegangen war; verneigte ſich vor dem Herrn Paſtor, vor Linz wie Miez; nickte dem Puſchel und dem Rubs gute Nacht; und ſchlich, betruͤbt, Ottilien nicht mehr zu gewahren, aus der Laube. Als er jedoch beim Ausgange derſel- ben noch einmal die Augen zuruͤckwendete, ſah er ſie hinter dem Hausthuͤrfluͤgel hervorgucken und es ſchien ihm, als ob ſie ihm einen Fingerkuß nachſende. Doch ſtrafte er ſeine Augen Luͤgen und ſuchte ſich ſelbſt ein-
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Anton fand ſich am meiſten ergriffen durch das
Wort: „wahre Kuͤnſtlernatur.“ Hatte nicht ſein ſeli-
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Abend erzaͤhlt, das liebe ungluͤckliche Toͤchterlein, die
ſchoͤne Antoinette in vaͤterlichem Stolze oftmalen alſo
genannt? Und der fremde Meiſter mit italieniſchem
Namen nannte ſich ſelbſt ſo und daneben einen „argen
Lump?“ Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau
nie gebrauchen hoͤrte, deſſen Bedeutung ihm aber
klar ſchien. Muͤſſen denn alle wahren Kuͤſtlernatu-
ren, ſo dachte er bei dieſem Vergleich, andere Leute
ſein, wie die anderen Leute? Dann ergriff er ſeine
ſaitenloſe Geige; kniff ſie veraͤchtlich unter den linken
Arm; kuͤßte Onkel Naſus die Hand; empfahl ſich
ſeinem neuen Goͤnner, der aus der feierlichen bereits
wieder in die durſtige Stimmung uͤbergegangen war;
verneigte ſich vor dem Herrn Paſtor, vor Linz wie
Miez; nickte dem Puſchel und dem Rubs gute Nacht;
und ſchlich, betruͤbt, Ottilien nicht mehr zu gewahren,
aus der Laube. Als er jedoch beim Ausgange derſel-
ben noch einmal die Augen zuruͤckwendete, ſah er ſie
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/85>, abgerufen am 24.11.2024.
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