So bin ich nicht sichtbar! rief Laura heftig und schickte sich an, die Flucht zu ergreifen. Doch augen- blicklich warf sie sich wieder völlig beruhiget in ihren Sessel, denn die Thür war mittlerweile aufgegangen und eingetreten war ein kleiner, derber Mann von etwa fünfzig Jahren, dessen schwarze Augen über eine krummgebogene Nase herüber in's Zimmer leuchteten, wie wenn sie Alles in Brand stecken wollten. Er trug einen dunklen Schnurrbart, welcher mit einem weißgrauen doch vollem Lockenkopfe seltsam kontra- stirte. Gekleidet war er halb stutzerhaft-elegant, halb abgeschabt-ärmlich. Mit ausgesucht verbindlichen Manieren näherte er sich Madame Simonelli, die ihm sogleich wie einem alten Bekannten die Hand zum Küssen entgegenstreckte. Von ihr zu Madame Ame- lot gewendet, lächelte er dieser, die reinsten und schön- sten Zähne fletschend, eine schmeichlerische Huldigung ihrer täglich wachsenden und reicher blühenden Reize zu, und nahm sodann, wie wenn er eingeladen und nur wichtiger Geschäfte halber zu spät erschienen wäre, seinen Platz am Tische, wozu er den eben leer gewor- denen Stuhl Anton's benützte. Dieser brachte das Dessert, stellte es auf und schob einen Teller mit prachtvollen Aepfeln vor Laura, wobei er sie ansah,
So bin ich nicht ſichtbar! rief Laura heftig und ſchickte ſich an, die Flucht zu ergreifen. Doch augen- blicklich warf ſie ſich wieder voͤllig beruhiget in ihren Seſſel, denn die Thuͤr war mittlerweile aufgegangen und eingetreten war ein kleiner, derber Mann von etwa fuͤnfzig Jahren, deſſen ſchwarze Augen uͤber eine krummgebogene Naſe heruͤber in’s Zimmer leuchteten, wie wenn ſie Alles in Brand ſtecken wollten. Er trug einen dunklen Schnurrbart, welcher mit einem weißgrauen doch vollem Lockenkopfe ſeltſam kontra- ſtirte. Gekleidet war er halb ſtutzerhaft-elegant, halb abgeſchabt-aͤrmlich. Mit ausgeſucht verbindlichen Manieren naͤherte er ſich Madame Simonelli, die ihm ſogleich wie einem alten Bekannten die Hand zum Kuͤſſen entgegenſtreckte. Von ihr zu Madame Ame- lot gewendet, laͤchelte er dieſer, die reinſten und ſchoͤn- ſten Zaͤhne fletſchend, eine ſchmeichleriſche Huldigung ihrer taͤglich wachſenden und reicher bluͤhenden Reize zu, und nahm ſodann, wie wenn er eingeladen und nur wichtiger Geſchaͤfte halber zu ſpaͤt erſchienen waͤre, ſeinen Platz am Tiſche, wozu er den eben leer gewor- denen Stuhl Anton’s benuͤtzte. Dieſer brachte das Deſſert, ſtellte es auf und ſchob einen Teller mit prachtvollen Aepfeln vor Laura, wobei er ſie anſah,
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So bin ich nicht ſichtbar! rief Laura heftig und
ſchickte ſich an, die Flucht zu ergreifen. Doch augen-
blicklich warf ſie ſich wieder voͤllig beruhiget in ihren
Seſſel, denn die Thuͤr war mittlerweile aufgegangen
und eingetreten war ein kleiner, derber Mann von
etwa fuͤnfzig Jahren, deſſen ſchwarze Augen uͤber eine
krummgebogene Naſe heruͤber in’s Zimmer leuchteten,
wie wenn ſie Alles in Brand ſtecken wollten. Er
trug einen dunklen Schnurrbart, welcher mit einem
weißgrauen doch vollem Lockenkopfe ſeltſam kontra-
ſtirte. Gekleidet war er halb ſtutzerhaft-elegant, halb
abgeſchabt-aͤrmlich. Mit ausgeſucht verbindlichen
Manieren naͤherte er ſich Madame Simonelli, die ihm
ſogleich wie einem alten Bekannten die Hand zum
Kuͤſſen entgegenſtreckte. Von ihr zu Madame Ame-
lot gewendet, laͤchelte er dieſer, die reinſten und ſchoͤn-
ſten Zaͤhne fletſchend, eine ſchmeichleriſche Huldigung
ihrer taͤglich wachſenden und reicher bluͤhenden Reize
zu, und nahm ſodann, wie wenn er eingeladen und
nur wichtiger Geſchaͤfte halber zu ſpaͤt erſchienen waͤre,
ſeinen Platz am Tiſche, wozu er den eben leer gewor-
denen Stuhl Anton’s benuͤtzte. Dieſer brachte das
Deſſert, ſtellte es auf und ſchob einen Teller mit
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/294>, abgerufen am 24.11.2024.
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