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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852.

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zum Tanze bereitete, trachtet einzig und allein nach
einem günstigen Moment, wo es ihm gelingen möchte,
unbemerkt von Onkel Nasus, zu entschlüpfen. Des-
halb sucht er sich, die Wand des großen Saales
entlang, so fest an die alten Tapeten gedrückt, daß er
eine der darauf eingewirkten Figuren zu sein scheint,
langsam von einem Fenster zum andern zu schieben,
bis er dem allgemeinen Ausgang nahe kommt. Doch
hier gerade muß der Baron sitzen, mit Pastor Karich
und einigen anderen alten Herren, im halben Wein-
schlummer zwar, aber aus diesem doch von Zeit zu
Zeit durch den Klang eines frischgefüllten Glases auf-
geweckt.

Da blieb ihm denn nichts übrig, als geduldig
den schicklichsten Zeitpunkt zur Flucht zu erlauern.
Er preßte, wie wenn er für nichts Anderes Augen
besäße, seine Stirn gegen die Fensterscheiben und
starrte hinaus in den dunklen Garten. Die Glocke
des kleinen Kirchthurmes schlug eben die zehnte
Stunde. Jhre Klänge, schwach herüberzitternd,
mischten sich seltsam in den Tanzlärm des Saales.
Beim letzten Schlage, den Anton mit dem Seufzer
begleitete: schon zehn Uhr? richtete sich dicht unter
dem Fenster eine weiße, weibliche Gestalt empor.

zum Tanze bereitete, trachtet einzig und allein nach
einem guͤnſtigen Moment, wo es ihm gelingen moͤchte,
unbemerkt von Onkel Naſus, zu entſchluͤpfen. Des-
halb ſucht er ſich, die Wand des großen Saales
entlang, ſo feſt an die alten Tapeten gedruͤckt, daß er
eine der darauf eingewirkten Figuren zu ſein ſcheint,
langſam von einem Fenſter zum andern zu ſchieben,
bis er dem allgemeinen Ausgang nahe kommt. Doch
hier gerade muß der Baron ſitzen, mit Paſtor Karich
und einigen anderen alten Herren, im halben Wein-
ſchlummer zwar, aber aus dieſem doch von Zeit zu
Zeit durch den Klang eines friſchgefuͤllten Glaſes auf-
geweckt.

Da blieb ihm denn nichts uͤbrig, als geduldig
den ſchicklichſten Zeitpunkt zur Flucht zu erlauern.
Er preßte, wie wenn er fuͤr nichts Anderes Augen
beſaͤße, ſeine Stirn gegen die Fenſterſcheiben und
ſtarrte hinaus in den dunklen Garten. Die Glocke
des kleinen Kirchthurmes ſchlug eben die zehnte
Stunde. Jhre Klaͤnge, ſchwach heruͤberzitternd,
miſchten ſich ſeltſam in den Tanzlaͤrm des Saales.
Beim letzten Schlage, den Anton mit dem Seufzer
begleitete: ſchon zehn Uhr? richtete ſich dicht unter
dem Fenſter eine weiße, weibliche Geſtalt empor.

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[135/0151] zum Tanze bereitete, trachtet einzig und allein nach einem guͤnſtigen Moment, wo es ihm gelingen moͤchte, unbemerkt von Onkel Naſus, zu entſchluͤpfen. Des- halb ſucht er ſich, die Wand des großen Saales entlang, ſo feſt an die alten Tapeten gedruͤckt, daß er eine der darauf eingewirkten Figuren zu ſein ſcheint, langſam von einem Fenſter zum andern zu ſchieben, bis er dem allgemeinen Ausgang nahe kommt. Doch hier gerade muß der Baron ſitzen, mit Paſtor Karich und einigen anderen alten Herren, im halben Wein- ſchlummer zwar, aber aus dieſem doch von Zeit zu Zeit durch den Klang eines friſchgefuͤllten Glaſes auf- geweckt. Da blieb ihm denn nichts uͤbrig, als geduldig den ſchicklichſten Zeitpunkt zur Flucht zu erlauern. Er preßte, wie wenn er fuͤr nichts Anderes Augen beſaͤße, ſeine Stirn gegen die Fenſterſcheiben und ſtarrte hinaus in den dunklen Garten. Die Glocke des kleinen Kirchthurmes ſchlug eben die zehnte Stunde. Jhre Klaͤnge, ſchwach heruͤberzitternd, miſchten ſich ſeltſam in den Tanzlaͤrm des Saales. Beim letzten Schlage, den Anton mit dem Seufzer begleitete: ſchon zehn Uhr? richtete ſich dicht unter dem Fenſter eine weiße, weibliche Geſtalt empor.

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Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/151>, abgerufen am 25.11.2024.