Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Unpolitische Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1841.Declamierübung. In einem schönen Land' ein Völkchen war, Das lebt' in tiefem Frieden manches Jahr. An einem König hatten sie genug, Gemein war allen was der Boden trug, Nur daß sich jeder zweimal scheren ließ, Sonst war's ein Leben wie im Paradies. Ihr König hieß Leithammel nur schlecht weg, Er kannt' im Lande jeden Weg und Steg, War stets auf seines Volkes Heil bedacht Und führte sie gar gut bei Tag und Nacht. Nie hörte man von Unzufriedenheit, Umtrieben, Meuterei und Zwist und Streit. Doch schlichen eines Tags sich Böck' herein. Wo Böcke sind, wird immer Zwietracht sein. Die Böck' erhoben bald ein groß Geschrei: Ihr Schafe, wißt nur nicht -- ihr seid nicht frei. Das wahre Glück liegt in der Freiheit nur, Und schuf uns nicht zur Freiheit die Natur? Da ward es erst den armen Schafen klar,
Daß frei doch eigentlich kein einzig war. Ihr Böcke, sprachen sie, ihr habt ganz Recht! Nicht frei ist, scheint es, unser brav Geschlecht: Thut Alles was ihr wollt, euch sei's vergönnt, Wenn ihr nur Freiheit uns gewinnen könnt. Declamierübung. In einem ſchönen Land' ein Völkchen war, Das lebt' in tiefem Frieden manches Jahr. An einem König hatten ſie genug, Gemein war allen was der Boden trug, Nur daß ſich jeder zweimal ſcheren ließ, Sonſt war's ein Leben wie im Paradies. Ihr König hieß Leithammel nur ſchlecht weg, Er kannt' im Lande jeden Weg und Steg, War ſtets auf ſeines Volkes Heil bedacht Und führte ſie gar gut bei Tag und Nacht. Nie hörte man von Unzufriedenheit, Umtrieben, Meuterei und Zwiſt und Streit. Doch ſchlichen eines Tags ſich Böck' herein. Wo Böcke ſind, wird immer Zwietracht ſein. Die Böck' erhoben bald ein groß Geſchrei: Ihr Schafe, wißt nur nicht — ihr ſeid nicht frei. Das wahre Glück liegt in der Freiheit nur, Und ſchuf uns nicht zur Freiheit die Natur? Da ward es erſt den armen Schafen klar,
Daß frei doch eigentlich kein einzig war. Ihr Böcke, ſprachen ſie, ihr habt ganz Recht! Nicht frei iſt, ſcheint es, unſer brav Geſchlecht: Thut Alles was ihr wollt, euch ſei's vergönnt, Wenn ihr nur Freiheit uns gewinnen könnt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="89" facs="#f0109"/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Declamierübung.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>In einem ſchönen Land' ein Völkchen war,</l><lb/> <l>Das lebt' in tiefem Frieden manches Jahr.</l><lb/> <l>An einem König hatten ſie genug,</l><lb/> <l>Gemein war allen was der Boden trug,</l><lb/> <l>Nur daß ſich jeder zweimal ſcheren ließ,</l><lb/> <l>Sonſt war's ein Leben wie im Paradies.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Ihr König hieß Leithammel nur ſchlecht weg,</l><lb/> <l>Er kannt' im Lande jeden Weg und Steg,</l><lb/> <l>War ſtets auf ſeines Volkes Heil bedacht</l><lb/> <l>Und führte ſie gar gut bei Tag und Nacht.</l><lb/> <l>Nie hörte man von Unzufriedenheit,</l><lb/> <l>Umtrieben, Meuterei und Zwiſt und Streit.</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>Doch ſchlichen eines Tags ſich Böck' herein.</l><lb/> <l>Wo Böcke ſind, wird immer Zwietracht ſein.</l><lb/> <l>Die Böck' erhoben bald ein groß Geſchrei:</l><lb/> <l>Ihr Schafe, wißt nur nicht — ihr ſeid nicht frei.</l><lb/> <l>Das wahre Glück liegt in der Freiheit nur,</l><lb/> <l>Und ſchuf uns nicht zur Freiheit die Natur?</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Da ward es erſt den armen Schafen klar,</l><lb/> <l>Daß frei doch eigentlich kein einzig war.</l><lb/> <l>Ihr Böcke, ſprachen ſie, ihr habt ganz Recht!</l><lb/> <l>Nicht frei iſt, ſcheint es, unſer brav Geſchlecht:</l><lb/> <l>Thut Alles was ihr wollt, euch ſei's vergönnt,</l><lb/> <l>Wenn ihr nur Freiheit uns gewinnen könnt.</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0109]
Declamierübung.
In einem ſchönen Land' ein Völkchen war,
Das lebt' in tiefem Frieden manches Jahr.
An einem König hatten ſie genug,
Gemein war allen was der Boden trug,
Nur daß ſich jeder zweimal ſcheren ließ,
Sonſt war's ein Leben wie im Paradies.
Ihr König hieß Leithammel nur ſchlecht weg,
Er kannt' im Lande jeden Weg und Steg,
War ſtets auf ſeines Volkes Heil bedacht
Und führte ſie gar gut bei Tag und Nacht.
Nie hörte man von Unzufriedenheit,
Umtrieben, Meuterei und Zwiſt und Streit.
Doch ſchlichen eines Tags ſich Böck' herein.
Wo Böcke ſind, wird immer Zwietracht ſein.
Die Böck' erhoben bald ein groß Geſchrei:
Ihr Schafe, wißt nur nicht — ihr ſeid nicht frei.
Das wahre Glück liegt in der Freiheit nur,
Und ſchuf uns nicht zur Freiheit die Natur?
Da ward es erſt den armen Schafen klar,
Daß frei doch eigentlich kein einzig war.
Ihr Böcke, ſprachen ſie, ihr habt ganz Recht!
Nicht frei iſt, ſcheint es, unſer brav Geſchlecht:
Thut Alles was ihr wollt, euch ſei's vergönnt,
Wenn ihr nur Freiheit uns gewinnen könnt.
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Zitationshilfe: | Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich: Unpolitische Lieder. Bd. 2. Hamburg, 1841, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_unpolitische02_1841/109>, abgerufen am 03.03.2025. |