Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817.

Bild:
<< vorherige Seite

haben wir über Dinge gesprochen, die du mehr
ahntest, als verstandest. Die Natur stellt den Cy¬
klus des menschlichen Lebens in dem Wechsel der
Jahreszeiten symbolisch dar, das sagen sie Alle, aber
ich meine das auf andere Weise als Alle. Die Früh¬
lingsnebel fallen, die Dünste des Sommers ver¬
dampfen, und erst des Herbstes reiner Aether zeigt
deutlich die ferne Landschaft, bis das Hienieden ver¬
sinkt in die Nacht des Winters. -- Ich meine, daß
im Hellsehen des Alters sich deutlicher das Walten
der unerforschlichen Macht zeigt. Es sind Blicke
vergönnt in das gelobte Land, zu dem die Pilger¬
fahrt beginnt mit dem zeitlichen Tode. Wie wird
mir in diesem Augenblick so klar das dunkle Ver¬
hängniß jenes Hauses, dem ich durch festere Bande,
als Verwandtschaft sie zu schlingen vermag, ver¬
knüpft wurde. Wie liegt alles so erschlossen vor mei¬
nes Geistes Augen! -- doch, wie ich nun alles so
gestaltet vor mir sehe, das Eigentliche, das kann ich
dir nicht mit Worten sagen, keines Menschen Zunge
ist dessen fähig. Höre mein Sohn das, was ich

haben wir uͤber Dinge geſprochen, die du mehr
ahnteſt, als verſtandeſt. Die Natur ſtellt den Cy¬
klus des menſchlichen Lebens in dem Wechſel der
Jahreszeiten ſymboliſch dar, das ſagen ſie Alle, aber
ich meine das auf andere Weiſe als Alle. Die Fruͤh¬
lingsnebel fallen, die Duͤnſte des Sommers ver¬
dampfen, und erſt des Herbſtes reiner Aether zeigt
deutlich die ferne Landſchaft, bis das Hienieden ver¬
ſinkt in die Nacht des Winters. — Ich meine, daß
im Hellſehen des Alters ſich deutlicher das Walten
der unerforſchlichen Macht zeigt. Es ſind Blicke
vergoͤnnt in das gelobte Land, zu dem die Pilger¬
fahrt beginnt mit dem zeitlichen Tode. Wie wird
mir in dieſem Augenblick ſo klar das dunkle Ver¬
haͤngniß jenes Hauſes, dem ich durch feſtere Bande,
als Verwandtſchaft ſie zu ſchlingen vermag, ver¬
knuͤpft wurde. Wie liegt alles ſo erſchloſſen vor mei¬
nes Geiſtes Augen! — doch, wie ich nun alles ſo
geſtaltet vor mir ſehe, das Eigentliche, das kann ich
dir nicht mit Worten ſagen, keines Menſchen Zunge
iſt deſſen faͤhig. Hoͤre mein Sohn das, was ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0181" n="173"/>
haben wir u&#x0364;ber Dinge ge&#x017F;prochen, die du mehr<lb/>
ahnte&#x017F;t, als ver&#x017F;tande&#x017F;t. Die Natur &#x017F;tellt den Cy¬<lb/>
klus des men&#x017F;chlichen Lebens in dem Wech&#x017F;el der<lb/>
Jahreszeiten &#x017F;ymboli&#x017F;ch dar, das &#x017F;agen &#x017F;ie Alle, aber<lb/>
ich meine das auf andere Wei&#x017F;e als Alle. Die Fru&#x0364;<lb/>
lingsnebel fallen, die Du&#x0364;n&#x017F;te des Sommers ver¬<lb/>
dampfen, und er&#x017F;t des Herb&#x017F;tes reiner Aether zeigt<lb/>
deutlich die ferne Land&#x017F;chaft, bis das Hienieden ver¬<lb/>
&#x017F;inkt in die Nacht des Winters. &#x2014; Ich meine, daß<lb/>
im Hell&#x017F;ehen des Alters &#x017F;ich deutlicher das Walten<lb/>
der unerfor&#x017F;chlichen Macht zeigt. Es &#x017F;ind Blicke<lb/>
vergo&#x0364;nnt in das gelobte Land, zu dem die Pilger¬<lb/>
fahrt beginnt mit dem zeitlichen Tode. Wie wird<lb/>
mir in die&#x017F;em Augenblick &#x017F;o klar das dunkle Ver¬<lb/>
ha&#x0364;ngniß jenes Hau&#x017F;es, dem ich durch fe&#x017F;tere Bande,<lb/>
als Verwandt&#x017F;chaft &#x017F;ie zu &#x017F;chlingen vermag, ver¬<lb/>
knu&#x0364;pft wurde. Wie liegt alles &#x017F;o er&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en vor mei¬<lb/>
nes Gei&#x017F;tes Augen! &#x2014; doch, wie ich nun alles &#x017F;o<lb/>
ge&#x017F;taltet vor mir &#x017F;ehe, das Eigentliche, das kann ich<lb/>
dir nicht mit Worten &#x017F;agen, keines Men&#x017F;chen Zunge<lb/>
i&#x017F;t de&#x017F;&#x017F;en fa&#x0364;hig. Ho&#x0364;re mein Sohn das, was ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0181] haben wir uͤber Dinge geſprochen, die du mehr ahnteſt, als verſtandeſt. Die Natur ſtellt den Cy¬ klus des menſchlichen Lebens in dem Wechſel der Jahreszeiten ſymboliſch dar, das ſagen ſie Alle, aber ich meine das auf andere Weiſe als Alle. Die Fruͤh¬ lingsnebel fallen, die Duͤnſte des Sommers ver¬ dampfen, und erſt des Herbſtes reiner Aether zeigt deutlich die ferne Landſchaft, bis das Hienieden ver¬ ſinkt in die Nacht des Winters. — Ich meine, daß im Hellſehen des Alters ſich deutlicher das Walten der unerforſchlichen Macht zeigt. Es ſind Blicke vergoͤnnt in das gelobte Land, zu dem die Pilger¬ fahrt beginnt mit dem zeitlichen Tode. Wie wird mir in dieſem Augenblick ſo klar das dunkle Ver¬ haͤngniß jenes Hauſes, dem ich durch feſtere Bande, als Verwandtſchaft ſie zu ſchlingen vermag, ver¬ knuͤpft wurde. Wie liegt alles ſo erſchloſſen vor mei¬ nes Geiſtes Augen! — doch, wie ich nun alles ſo geſtaltet vor mir ſehe, das Eigentliche, das kann ich dir nicht mit Worten ſagen, keines Menſchen Zunge iſt deſſen faͤhig. Hoͤre mein Sohn das, was ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817/181
Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 2. Berlin, 1817, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke02_1817/181>, abgerufen am 24.11.2024.