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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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den gewiß nicht geringe. Wenn es schon an
und für sich schwer ist Wahrheit, von Erdich-
tung zu unterscheiden: so muß es für diese noch
weit schwerer seyn, weil sie nicht Kenntniße und
Fähigkeiten genug besitzen zu prüfen, was hi-
storische Wahrheiten durch aus erfordern. Sie
nehmen entweder alles für wahr oder alles für
falsch an. Mich baben wol Jünglinge gefragt,
die solche Dialogen gelesen hatten: was eigent-
lich wahr an der Geschichte sey? und wenn sie
sahen, daß von dem Chaos ein kleines Häufchen
übrig blieb: so meinten sie es sey doch gewiß
beßer, wenn alles schön, und so erzählt würde,
wie es vorgefallen sey, und nicht wie es sich
die Menschen etwa gedacht haben könnten. An-
dere die mehr Egoismus besitzen, und die Dia-
logen und erdichteten Facta für reine Wahr-
heit angenommen haben, nehmen es sich wol
heraus zu wiedersprechen, wenn man ihnen
mit historischer Critik dasselbe Faktum erklärt.
Der Lehrer kommt wol gar in Gefahr seine hi-
storische Autorität zu verliehren.

Wie sich doch das herrliche Studium der
Geschichte, das eigentlich die Grundlage aller
Wissenschaften ist, herum drehen lassen muß!
Schlägt man eine solche dialogisirte Geschichte
auf: so findet man, daß der Verfasser die erste
beste Chronik auffaste, ein Faktum, ohne Cri-

den gewiß nicht geringe. Wenn es ſchon an
und fuͤr ſich ſchwer iſt Wahrheit, von Erdich-
tung zu unterſcheiden: ſo muß es fuͤr dieſe noch
weit ſchwerer ſeyn, weil ſie nicht Kenntniße und
Faͤhigkeiten genug beſitzen zu pruͤfen, was hi-
ſtoriſche Wahrheiten durch aus erfordern. Sie
nehmen entweder alles fuͤr wahr oder alles fuͤr
falſch an. Mich baben wol Juͤnglinge gefragt,
die ſolche Dialogen geleſen hatten: was eigent-
lich wahr an der Geſchichte ſey? und wenn ſie
ſahen, daß von dem Chaos ein kleines Haͤufchen
uͤbrig blieb: ſo meinten ſie es ſey doch gewiß
beßer, wenn alles ſchoͤn, und ſo erzaͤhlt wuͤrde,
wie es vorgefallen ſey, und nicht wie es ſich
die Menſchen etwa gedacht haben koͤnnten. An-
dere die mehr Egoismus beſitzen, und die Dia-
logen und erdichteten Facta fuͤr reine Wahr-
heit angenommen haben, nehmen es ſich wol
heraus zu wiederſprechen, wenn man ihnen
mit hiſtoriſcher Critik daſſelbe Faktum erklaͤrt.
Der Lehrer kommt wol gar in Gefahr ſeine hi-
ſtoriſche Autoritaͤt zu verliehren.

Wie ſich doch das herrliche Studium der
Geſchichte, das eigentlich die Grundlage aller
Wiſſenſchaften iſt, herum drehen laſſen muß!
Schlaͤgt man eine ſolche dialogiſirte Geſchichte
auf: ſo findet man, daß der Verfaſſer die erſte
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[39/0039] den gewiß nicht geringe. Wenn es ſchon an und fuͤr ſich ſchwer iſt Wahrheit, von Erdich- tung zu unterſcheiden: ſo muß es fuͤr dieſe noch weit ſchwerer ſeyn, weil ſie nicht Kenntniße und Faͤhigkeiten genug beſitzen zu pruͤfen, was hi- ſtoriſche Wahrheiten durch aus erfordern. Sie nehmen entweder alles fuͤr wahr oder alles fuͤr falſch an. Mich baben wol Juͤnglinge gefragt, die ſolche Dialogen geleſen hatten: was eigent- lich wahr an der Geſchichte ſey? und wenn ſie ſahen, daß von dem Chaos ein kleines Haͤufchen uͤbrig blieb: ſo meinten ſie es ſey doch gewiß beßer, wenn alles ſchoͤn, und ſo erzaͤhlt wuͤrde, wie es vorgefallen ſey, und nicht wie es ſich die Menſchen etwa gedacht haben koͤnnten. An- dere die mehr Egoismus beſitzen, und die Dia- logen und erdichteten Facta fuͤr reine Wahr- heit angenommen haben, nehmen es ſich wol heraus zu wiederſprechen, wenn man ihnen mit hiſtoriſcher Critik daſſelbe Faktum erklaͤrt. Der Lehrer kommt wol gar in Gefahr ſeine hi- ſtoriſche Autoritaͤt zu verliehren. Wie ſich doch das herrliche Studium der Geſchichte, das eigentlich die Grundlage aller Wiſſenſchaften iſt, herum drehen laſſen muß! Schlaͤgt man eine ſolche dialogiſirte Geſchichte auf: ſo findet man, daß der Verfaſſer die erſte beſte Chronik auffaſte, ein Faktum, ohne Cri-

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/39>, abgerufen am 27.11.2024.