Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.Zeit der vollesten Blüthe. Neue, qualvolle Reue So wird eine Kraft die uns der Schöpfer Zeit der volleſten Bluͤthe. Neue, qualvolle Reue So wird eine Kraft die uns der Schoͤpfer <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <p><pb facs="#f0104" n="104"/> Zeit der volleſten Bluͤthe. Neue, qualvolle Reue<lb/> foltert ſchrecklich ihre Bruſt, Schaam verſchließt<lb/> den Mund ſelbſt vor dem Helfer — Wie man-<lb/> che Blume ſtarb nicht in der Knospe ehe ſie ſich<lb/> entfaltete! wie manche Mutter pfluͤckt eine Ro-<lb/> ſe in den Sarg ihres Sohns, ihrer Tochter die<lb/> einſt ſelbſt wie Roſen bluͤheten. Elend, namen-<lb/> loſes Elend gehet aus Buͤchern hervor; die Blu-<lb/> men verbergen Schlangen, ſie ſtechen fuͤrchter-<lb/> lich, ihr Gift verlieret auch im Tode nicht die<lb/> ſchreckliche Wirkung.</p><lb/> <p>So wird eine Kraft die uns der Schoͤpfer<lb/> zur Freude zum Vergnuͤgen gab, durch uns ſelbſt<lb/> die Quelle des Elendes, und wenn ſchon alle Faͤ-<lb/> higkeiten alle Kraͤfte dahin ſind: ſo weiden ſich doch<lb/> die Ungluͤcklichen noch an den Bildern ihrer Phan-<lb/> taſie, <hi rendition="#i">die ſie allein geuͤbt, und uͤber welche ſie</hi><lb/> alle Herrſchaft verlohren haben. Wie ſchlecht<lb/> iſt fuͤr die <hi rendition="#fr">geiſtige</hi> Ausbildung geſorgt! er traͤgt<lb/> Feſſeln die ihm ſchimpflich ſind. Seine ganze<lb/> Thaͤtigkeit iſt dahin, das Ziel ſeiner hohen Be-<lb/> ſtimmung verruͤckt, nur ſo viel iſt noch uͤbrig,<lb/> daß er ſein Elend fuͤhlen kann. Schrecklicher<lb/> Zuſtand, ſchreckliche Wirkung der zuͤgelloſen Phan-<lb/> taſie und der vergiftenden Romanen. Sie mor-<lb/> den die Menſchheit und mit ihr alles was ihr<lb/> theuer iſt — Tugend und Unſchuld, hoͤren nicht<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [104/0104]
Zeit der volleſten Bluͤthe. Neue, qualvolle Reue
foltert ſchrecklich ihre Bruſt, Schaam verſchließt
den Mund ſelbſt vor dem Helfer — Wie man-
che Blume ſtarb nicht in der Knospe ehe ſie ſich
entfaltete! wie manche Mutter pfluͤckt eine Ro-
ſe in den Sarg ihres Sohns, ihrer Tochter die
einſt ſelbſt wie Roſen bluͤheten. Elend, namen-
loſes Elend gehet aus Buͤchern hervor; die Blu-
men verbergen Schlangen, ſie ſtechen fuͤrchter-
lich, ihr Gift verlieret auch im Tode nicht die
ſchreckliche Wirkung.
So wird eine Kraft die uns der Schoͤpfer
zur Freude zum Vergnuͤgen gab, durch uns ſelbſt
die Quelle des Elendes, und wenn ſchon alle Faͤ-
higkeiten alle Kraͤfte dahin ſind: ſo weiden ſich doch
die Ungluͤcklichen noch an den Bildern ihrer Phan-
taſie, die ſie allein geuͤbt, und uͤber welche ſie
alle Herrſchaft verlohren haben. Wie ſchlecht
iſt fuͤr die geiſtige Ausbildung geſorgt! er traͤgt
Feſſeln die ihm ſchimpflich ſind. Seine ganze
Thaͤtigkeit iſt dahin, das Ziel ſeiner hohen Be-
ſtimmung verruͤckt, nur ſo viel iſt noch uͤbrig,
daß er ſein Elend fuͤhlen kann. Schrecklicher
Zuſtand, ſchreckliche Wirkung der zuͤgelloſen Phan-
taſie und der vergiftenden Romanen. Sie mor-
den die Menſchheit und mit ihr alles was ihr
theuer iſt — Tugend und Unſchuld, hoͤren nicht
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