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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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an, und vermeiden nichts destoweniger alle Ungereimtheiten, von welchen unsre alte
europäische Gartenkunst so voll ist.

Sowohl die geraden als die gewundenen Wege der Chineser halten sich an
manchen Plätzen in beträchtlicher Entfernung von einander, und sind durch dichtge-
pflanztes Buschwerk getrennt, um alle auswendige Gegenstände zu verstecken, damit
dem Wanderer nicht allein die Aussicht ins Weite benommen, sondern auch in ihm
jene düstre Empfindung erweckt werde, die sich ganz natürlich der Seele bemeistert,
wenn man durch das Labyrinth eines einsamen Haines wandelt. An andern Plätzen
nähern sich die Gänge einander wieder; das Gebüsche wächst allmählig niedriger und
dünner; das Ohr vernimmt die Stimme derer, die auf den gegenüberliegenden We-
gen gehen; und das Auge belustigt sich mit dem verwirrten Anschauen der Personen,
die zwischen den Stämmen und Zweigen der Bäume durchscheinen. Auf einmal
werden die Anpflanzungen wieder dichter und breiter; die Gegenstände verschwinden,
und die Stimmen verlieren sich in ein verwirrtes Gemurmel. Dann wenden sich die
beyden Gänge unverhofft wieder nach einerley freyen Plätzen, und die verschiedenen
Gesellschaften werden sehr angenehm überrascht, sich einander an einem Orte zu be-
gegnen, wo sie sich alle sehen und ihre Neubegierde ohne Hinderniß befriedigen kön-
nen. -- Der Boden des Weges ist entweder von Rasen oder von Kies; keines von
beyden bleibt in den Schranken des Weges, sondern läuft vielmehr streckenlang auf
beyden Seiten ins Gehölze, in den Hain oder ins Buschwerk hinein, um die Natur
genauer nachzuahmen, und jenes unangenehme Regelmäßige und Steife zu verban-
nen, welches ein gegenseitiges Verfahren in unsern Anpflanzungen hervorbringt.

In den ausgedehnten Gärten hat jedes Thal seinen Bach oder sein Flüßchen,
das sich um den Fuß der Hügel windet und in größere Flüsse oder Seen hineinfällt.
Die Chineser behaupten, daß keine Gärten, besonders die weitläuftigen, ohne dieses
in so mancherley Gestalten umzubildende Element vollkommen seyn können. Es ist,
sagen sie, in den Jahrszeiten, wo die ländlichen Scenen am meisten besucht werden,
erquickend und reizvoll für die Sinne, und eine Hauptquelle der Mannigfaltigkeit,
wegen der verschiedenen Formen und Verwandlungen, deren es fähig ist, und weil
es auf allerley Art mit andern Gegenständen verbunden werden kann. Seine Ein-
drücke auf das menschliche Herz sind mannigfaltig und ungemein stark; und weil es
auf vielfache Weise geleitet werden kann, so setzt es den Künstler in den Stand, den
Charakter einer jeden Anlage zu verstärken, die Stille einer ruhigen Scene zu heben,
einer melancholischen das Trübe, einer anmuthigen Freude, einer erhabenen Majestät,
und einer erschrecklichen Grausen zu geben.

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der Alten und der Neuen.
an, und vermeiden nichts deſtoweniger alle Ungereimtheiten, von welchen unſre alte
europaͤiſche Gartenkunſt ſo voll iſt.

Sowohl die geraden als die gewundenen Wege der Chineſer halten ſich an
manchen Plaͤtzen in betraͤchtlicher Entfernung von einander, und ſind durch dichtge-
pflanztes Buſchwerk getrennt, um alle auswendige Gegenſtaͤnde zu verſtecken, damit
dem Wanderer nicht allein die Ausſicht ins Weite benommen, ſondern auch in ihm
jene duͤſtre Empfindung erweckt werde, die ſich ganz natuͤrlich der Seele bemeiſtert,
wenn man durch das Labyrinth eines einſamen Haines wandelt. An andern Plaͤtzen
naͤhern ſich die Gaͤnge einander wieder; das Gebuͤſche waͤchſt allmaͤhlig niedriger und
duͤnner; das Ohr vernimmt die Stimme derer, die auf den gegenuͤberliegenden We-
gen gehen; und das Auge beluſtigt ſich mit dem verwirrten Anſchauen der Perſonen,
die zwiſchen den Staͤmmen und Zweigen der Baͤume durchſcheinen. Auf einmal
werden die Anpflanzungen wieder dichter und breiter; die Gegenſtaͤnde verſchwinden,
und die Stimmen verlieren ſich in ein verwirrtes Gemurmel. Dann wenden ſich die
beyden Gaͤnge unverhofft wieder nach einerley freyen Plaͤtzen, und die verſchiedenen
Geſellſchaften werden ſehr angenehm uͤberraſcht, ſich einander an einem Orte zu be-
gegnen, wo ſie ſich alle ſehen und ihre Neubegierde ohne Hinderniß befriedigen koͤn-
nen. — Der Boden des Weges iſt entweder von Raſen oder von Kies; keines von
beyden bleibt in den Schranken des Weges, ſondern laͤuft vielmehr ſtreckenlang auf
beyden Seiten ins Gehoͤlze, in den Hain oder ins Buſchwerk hinein, um die Natur
genauer nachzuahmen, und jenes unangenehme Regelmaͤßige und Steife zu verban-
nen, welches ein gegenſeitiges Verfahren in unſern Anpflanzungen hervorbringt.

In den ausgedehnten Gaͤrten hat jedes Thal ſeinen Bach oder ſein Fluͤßchen,
das ſich um den Fuß der Huͤgel windet und in groͤßere Fluͤſſe oder Seen hineinfaͤllt.
Die Chineſer behaupten, daß keine Gaͤrten, beſonders die weitlaͤuftigen, ohne dieſes
in ſo mancherley Geſtalten umzubildende Element vollkommen ſeyn koͤnnen. Es iſt,
ſagen ſie, in den Jahrszeiten, wo die laͤndlichen Scenen am meiſten beſucht werden,
erquickend und reizvoll fuͤr die Sinne, und eine Hauptquelle der Mannigfaltigkeit,
wegen der verſchiedenen Formen und Verwandlungen, deren es faͤhig iſt, und weil
es auf allerley Art mit andern Gegenſtaͤnden verbunden werden kann. Seine Ein-
druͤcke auf das menſchliche Herz ſind mannigfaltig und ungemein ſtark; und weil es
auf vielfache Weiſe geleitet werden kann, ſo ſetzt es den Kuͤnſtler in den Stand, den
Charakter einer jeden Anlage zu verſtaͤrken, die Stille einer ruhigen Scene zu heben,
einer melancholiſchen das Truͤbe, einer anmuthigen Freude, einer erhabenen Majeſtaͤt,
und einer erſchrecklichen Grauſen zu geben.

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[91/0105] der Alten und der Neuen. an, und vermeiden nichts deſtoweniger alle Ungereimtheiten, von welchen unſre alte europaͤiſche Gartenkunſt ſo voll iſt. Sowohl die geraden als die gewundenen Wege der Chineſer halten ſich an manchen Plaͤtzen in betraͤchtlicher Entfernung von einander, und ſind durch dichtge- pflanztes Buſchwerk getrennt, um alle auswendige Gegenſtaͤnde zu verſtecken, damit dem Wanderer nicht allein die Ausſicht ins Weite benommen, ſondern auch in ihm jene duͤſtre Empfindung erweckt werde, die ſich ganz natuͤrlich der Seele bemeiſtert, wenn man durch das Labyrinth eines einſamen Haines wandelt. An andern Plaͤtzen naͤhern ſich die Gaͤnge einander wieder; das Gebuͤſche waͤchſt allmaͤhlig niedriger und duͤnner; das Ohr vernimmt die Stimme derer, die auf den gegenuͤberliegenden We- gen gehen; und das Auge beluſtigt ſich mit dem verwirrten Anſchauen der Perſonen, die zwiſchen den Staͤmmen und Zweigen der Baͤume durchſcheinen. Auf einmal werden die Anpflanzungen wieder dichter und breiter; die Gegenſtaͤnde verſchwinden, und die Stimmen verlieren ſich in ein verwirrtes Gemurmel. Dann wenden ſich die beyden Gaͤnge unverhofft wieder nach einerley freyen Plaͤtzen, und die verſchiedenen Geſellſchaften werden ſehr angenehm uͤberraſcht, ſich einander an einem Orte zu be- gegnen, wo ſie ſich alle ſehen und ihre Neubegierde ohne Hinderniß befriedigen koͤn- nen. — Der Boden des Weges iſt entweder von Raſen oder von Kies; keines von beyden bleibt in den Schranken des Weges, ſondern laͤuft vielmehr ſtreckenlang auf beyden Seiten ins Gehoͤlze, in den Hain oder ins Buſchwerk hinein, um die Natur genauer nachzuahmen, und jenes unangenehme Regelmaͤßige und Steife zu verban- nen, welches ein gegenſeitiges Verfahren in unſern Anpflanzungen hervorbringt. In den ausgedehnten Gaͤrten hat jedes Thal ſeinen Bach oder ſein Fluͤßchen, das ſich um den Fuß der Huͤgel windet und in groͤßere Fluͤſſe oder Seen hineinfaͤllt. Die Chineſer behaupten, daß keine Gaͤrten, beſonders die weitlaͤuftigen, ohne dieſes in ſo mancherley Geſtalten umzubildende Element vollkommen ſeyn koͤnnen. Es iſt, ſagen ſie, in den Jahrszeiten, wo die laͤndlichen Scenen am meiſten beſucht werden, erquickend und reizvoll fuͤr die Sinne, und eine Hauptquelle der Mannigfaltigkeit, wegen der verſchiedenen Formen und Verwandlungen, deren es faͤhig iſt, und weil es auf allerley Art mit andern Gegenſtaͤnden verbunden werden kann. Seine Ein- druͤcke auf das menſchliche Herz ſind mannigfaltig und ungemein ſtark; und weil es auf vielfache Weiſe geleitet werden kann, ſo ſetzt es den Kuͤnſtler in den Stand, den Charakter einer jeden Anlage zu verſtaͤrken, die Stille einer ruhigen Scene zu heben, einer melancholiſchen das Truͤbe, einer anmuthigen Freude, einer erhabenen Majeſtaͤt, und einer erſchrecklichen Grauſen zu geben. Sie M 2

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/105>, abgerufen am 22.11.2024.