unsittlich, dass ein Eheweib ihren Körper vor irgend einem Manne, den ihrigen ausgenom- men, entblösst! Verscheucht dergleichen Über- windung der Schamhaftigkeit nicht Alles, was man Ehrbarkeit nennen kann? Wie viele Villacerfsche Fälle mögen, ohne dass sie ver- zeichnet sind, sich ereignet haben, wo ein Arzt im verliebten Taumel nicht wusste, was er that! wo er, um ein Weib zu verführen, oder ein Mädchen zu gewinnen, die Kur ver- längert, sie anders lenkt, und oft bloss in die- ser Rücksicht einen langsamen oder schleuni- gen Tod, ohne dass er es dazu anlegte, beför- dert! Und wenn man weiss, was Eifersucht vermag, wer zittert nicht bei diesem Gedan- ken und bei der Einrichtung, nach welcher man dem Arzte so viel anvertrauet, ohne selbst nur den leidigen Trost zu haben, durch drei Instanzen seinen Process zu verlieren!
Woher kommt es, dass der so wichtige und über alles gehende Widerstreit zwischen Wohlstand, Sitten und Bedürfniss bis jetzt übersehen worden ist? Hat man ihn aber nicht übersehen, warum ist denn dieser Miss-
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unsittlich, daſs ein Eheweib ihren Körper vor irgend einem Manne, den ihrigen ausgenom- men, entblöſst! Verscheucht dergleichen Über- windung der Schamhaftigkeit nicht Alles, was man Ehrbarkeit nennen kann? Wie viele Villacerfsche Fälle mögen, ohne daſs sie ver- zeichnet sind, sich ereignet haben, wo ein Arzt im verliebten Taumel nicht wuſste, was er that! wo er, um ein Weib zu verführen, oder ein Mädchen zu gewinnen, die Kur ver- längert, sie anders lenkt, und oft bloſs in die- ser Rücksicht einen langsamen oder schleuni- gen Tod, ohne daſs er es dazu anlegte, beför- dert! Und wenn man weiſs, was Eifersucht vermag, wer zittert nicht bei diesem Gedan- ken und bei der Einrichtung, nach welcher man dem Arzte so viel anvertrauet, ohne selbst nur den leidigen Trost zu haben, durch drei Instanzen seinen Proceſs zu verlieren!
Woher kommt es, daſs der so wichtige und über alles gehende Widerstreit zwischen Wohlstand, Sitten und Bedürfniſs bis jetzt übersehen worden ist? Hat man ihn aber nicht übersehen, warum ist denn dieser Miſs-
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unsittlich, daſs ein Eheweib ihren Körper vor
irgend einem Manne, den ihrigen ausgenom-
men, entblöſst! Verscheucht dergleichen Über-
windung der Schamhaftigkeit nicht Alles, was
man Ehrbarkeit nennen kann? Wie viele
Villacerfsche Fälle mögen, ohne daſs sie ver-
zeichnet sind, sich ereignet haben, wo ein
Arzt im verliebten Taumel nicht wuſste, was
er that! wo er, um ein Weib zu verführen,
oder ein Mädchen zu gewinnen, die Kur ver-
längert, sie anders lenkt, und oft bloſs in die-
ser Rücksicht einen langsamen oder schleuni-
gen Tod, ohne daſs er es dazu anlegte, beför-
dert! Und wenn man weiſs, was Eifersucht
vermag, wer zittert nicht bei diesem Gedan-
ken und bei der Einrichtung, nach welcher
man dem Arzte so viel anvertrauet, ohne selbst
nur den leidigen Trost zu haben, durch drei
Instanzen seinen Proceſs zu verlieren!
Woher kommt es, daſs der so wichtige
und über alles gehende Widerstreit zwischen
Wohlstand, Sitten und Bedürfniſs bis jetzt
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Berlin, 1792, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_weiber_1792/347>, abgerufen am 22.11.2024.
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