Herkules, als Gränze anzusehen, über welche hinaus sich kein Ruhepunkt für den mensch- lichen Verstand denken liesse; man ahndete nicht einmal, dass das, was im Römischen Staate und für Römer gerecht und weise war, in Deutschland und für Deutsche sehr unweise und ungerecht seyn könnte -- Der unverfei- nerte Geist der Deutschen Sitten hing mehr an einer tugendhaften schlichten Denkungsart, als an gewissen durch Connivenz so oder so bestimmten Wörtern; und die Deutschen hät- ten von hundert Arten der Lust nicht gewusst, wenn das Römische Gesetz (dessen um sich greifende Alleinherrschaft man nur allmählich und nothdürftig durch Spiegel und Weichbilde und Willkühre beschränkte) nicht gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten. Kann man nicht Laster verbreiten, wenn man sie gleich mit wahren Far- ben zeichnet? Giebt es nicht Sünden, die nicht anders als mit Gefahr der Verführung zu ent- schleiern sind? und wenn es dem Dichter schwer ist, treue Gemählde der Sitten zu lie- fern, ohne den sittlichen Anstand zu verlet- zen -- mit welcher Weisheit muss der Ge-
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Herkules, als Gränze anzusehen, über welche hinaus sich kein Ruhepunkt für den mensch- lichen Verstand denken lieſse; man ahndete nicht einmal, daſs das, was im Römischen Staate und für Römer gerecht und weise war, in Deutschland und für Deutsche sehr unweise und ungerecht seyn könnte — Der unverfei- nerte Geist der Deutschen Sitten hing mehr an einer tugendhaften schlichten Denkungsart, als an gewissen durch Connivenz so oder so bestimmten Wörtern; und die Deutschen hät- ten von hundert Arten der Lust nicht gewuſst, wenn das Römische Gesetz (dessen um sich greifende Alleinherrschaft man nur allmählich und nothdürftig durch Spiegel und Weichbilde und Willkühre beschränkte) nicht gesagt hätte: Laſs dich nicht gelüsten. Kann man nicht Laster verbreiten, wenn man sie gleich mit wahren Far- ben zeichnet? Giebt es nicht Sünden, die nicht anders als mit Gefahr der Verführung zu ent- schleiern sind? und wenn es dem Dichter schwer ist, treue Gemählde der Sitten zu lie- fern, ohne den sittlichen Anstand zu verlet- zen — mit welcher Weisheit muſs der Ge-
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Herkules, als Gränze anzusehen, über welche
hinaus sich kein Ruhepunkt für den mensch-
lichen Verstand denken lieſse; man ahndete
nicht einmal, daſs das, was im Römischen
Staate und für Römer gerecht und weise war,
in Deutschland und für Deutsche sehr unweise
und ungerecht seyn könnte — Der unverfei-
nerte Geist der Deutschen Sitten hing mehr
an einer tugendhaften schlichten Denkungsart,
als an gewissen durch Connivenz so oder so
bestimmten Wörtern; und die Deutschen hät-
ten von hundert Arten der Lust nicht gewuſst,
wenn das Römische Gesetz (dessen um sich
greifende Alleinherrschaft man nur allmählich
und nothdürftig durch Spiegel und Weichbilde
und Willkühre beschränkte) nicht gesagt hätte:
Laſs dich nicht gelüsten. Kann man nicht Laster
verbreiten, wenn man sie gleich mit wahren Far-
ben zeichnet? Giebt es nicht Sünden, die nicht
anders als mit Gefahr der Verführung zu ent-
schleiern sind? und wenn es dem Dichter
schwer ist, treue Gemählde der Sitten zu lie-
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Berlin, 1792, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_weiber_1792/145>, abgerufen am 23.11.2024.
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