eines Planeten. Wer kann in die Sonne se- hen! sagte sie. Der Mond hat so was mensch- liches. Laß sie, die Hochweisen Herren, nur immerhin behaupten, fuhr sie fort, den Baum des Erkenntnisses gutes und böses schon in dieser Welt gefunden zu haben; es ist wahr- lich eine Schlange, die sie verleitete. Die Regeln können zwar schlechte Dichter vom Parnaß, oder beßer vom Sinai, zurück hal- ten, haben sie aber je einen gemacht? Die Weisheit dieser Welt, was ist sie beym Licht der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin- der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder- schue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet sie an -- und noch bis jezt, fuhr meine Mut- ter fort, hab' ich mich beym lieben Mond und bey den Kinderschuen wohl befunden. Was sie über ihr Herz bringen konnte, das konnte sie auch mit der Vernunft räumen. Das Herz spielt auch würklich weniger Streiche, als die Vernunft. Die Vernunft ist eine Ge- meinuhr, jeder schiebt ihren Zeiger; das Herz trag ich bey mir. Je weniger der Mensch der Vernunft und dem Schicksal Blößen über sich giebt; je unüberwindlicher, je stärker ist er. Wenn ich schwach bin, bin ich stark, konnte meine Mutter sagen. Ihr Portrait
war
eines Planeten. Wer kann in die Sonne ſe- hen! ſagte ſie. Der Mond hat ſo was menſch- liches. Laß ſie, die Hochweiſen Herren, nur immerhin behaupten, fuhr ſie fort, den Baum des Erkenntniſſes gutes und boͤſes ſchon in dieſer Welt gefunden zu haben; es iſt wahr- lich eine Schlange, die ſie verleitete. Die Regeln koͤnnen zwar ſchlechte Dichter vom Parnaß, oder beßer vom Sinai, zuruͤck hal- ten, haben ſie aber je einen gemacht? Die Weisheit dieſer Welt, was iſt ſie beym Licht der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin- der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder- ſchue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet ſie an — und noch bis jezt, fuhr meine Mut- ter fort, hab’ ich mich beym lieben Mond und bey den Kinderſchuen wohl befunden. Was ſie uͤber ihr Herz bringen konnte, das konnte ſie auch mit der Vernunft raͤumen. Das Herz ſpielt auch wuͤrklich weniger Streiche, als die Vernunft. Die Vernunft iſt eine Ge- meinuhr, jeder ſchiebt ihren Zeiger; das Herz trag ich bey mir. Je weniger der Menſch der Vernunft und dem Schickſal Bloͤßen uͤber ſich giebt; je unuͤberwindlicher, je ſtaͤrker iſt er. Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark, konnte meine Mutter ſagen. Ihr Portrait
war
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0074"n="68"/>
eines Planeten. Wer kann in die Sonne ſe-<lb/>
hen! ſagte ſie. Der Mond hat ſo was menſch-<lb/>
liches. Laß ſie, die Hochweiſen Herren, nur<lb/>
immerhin behaupten, fuhr ſie fort, den Baum<lb/>
des Erkenntniſſes gutes und boͤſes ſchon in<lb/>
dieſer Welt gefunden zu haben; es iſt wahr-<lb/>
lich eine Schlange, die ſie verleitete. Die<lb/>
Regeln koͤnnen zwar ſchlechte Dichter vom<lb/>
Parnaß, oder beßer vom Sinai, zuruͤck hal-<lb/>
ten, haben ſie aber je einen gemacht? Die<lb/>
Weisheit dieſer Welt, was iſt ſie beym Licht<lb/>
der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin-<lb/>
der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder-<lb/>ſchue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet<lb/>ſie an — und noch bis jezt, fuhr meine Mut-<lb/>
ter fort, hab’ ich mich beym lieben Mond und<lb/>
bey den Kinderſchuen wohl befunden. Was<lb/>ſie uͤber ihr Herz bringen konnte, das konnte<lb/>ſie auch mit der Vernunft raͤumen. Das<lb/>
Herz ſpielt auch wuͤrklich weniger Streiche,<lb/>
als die Vernunft. Die Vernunft iſt eine Ge-<lb/>
meinuhr, jeder ſchiebt ihren Zeiger; das Herz<lb/>
trag ich bey mir. Je weniger der Menſch der<lb/>
Vernunft und dem Schickſal Bloͤßen uͤber<lb/>ſich giebt; je unuͤberwindlicher, je ſtaͤrker iſt<lb/>
er. Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark,<lb/>
konnte meine Mutter ſagen. Ihr Portrait<lb/><fwplace="bottom"type="catch">war</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[68/0074]
eines Planeten. Wer kann in die Sonne ſe-
hen! ſagte ſie. Der Mond hat ſo was menſch-
liches. Laß ſie, die Hochweiſen Herren, nur
immerhin behaupten, fuhr ſie fort, den Baum
des Erkenntniſſes gutes und boͤſes ſchon in
dieſer Welt gefunden zu haben; es iſt wahr-
lich eine Schlange, die ſie verleitete. Die
Regeln koͤnnen zwar ſchlechte Dichter vom
Parnaß, oder beßer vom Sinai, zuruͤck hal-
ten, haben ſie aber je einen gemacht? Die
Weisheit dieſer Welt, was iſt ſie beym Licht
der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin-
der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder-
ſchue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet
ſie an — und noch bis jezt, fuhr meine Mut-
ter fort, hab’ ich mich beym lieben Mond und
bey den Kinderſchuen wohl befunden. Was
ſie uͤber ihr Herz bringen konnte, das konnte
ſie auch mit der Vernunft raͤumen. Das
Herz ſpielt auch wuͤrklich weniger Streiche,
als die Vernunft. Die Vernunft iſt eine Ge-
meinuhr, jeder ſchiebt ihren Zeiger; das Herz
trag ich bey mir. Je weniger der Menſch der
Vernunft und dem Schickſal Bloͤßen uͤber
ſich giebt; je unuͤberwindlicher, je ſtaͤrker iſt
er. Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark,
konnte meine Mutter ſagen. Ihr Portrait
war
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/74>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.