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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

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über die Schranken der menschlichen Natur
geht, kann der Schöpfer nicht fordern. Es
giebt keinen allgemeinen guten, und keinen
allgemeinen bösen Menschen.


Erbsünde ist vielleicht Bewußtseyn von
natürlicher Freyheit, mit der wir alle auf die
Welt kommen, vorzüglich ein Curländer.
Die Herren Theologen nehmen sie anders.
Ich lasse sie bey ihrer Freyheit; allein ich be-
stehe auch auf die meinige. In dem Sinn,
wie die Herren Geistlichen es nehmen, hat die
Frau v. W -- keine Erbsünde, und so kenn'
ich viel ohne Erbsünde -- Was ist die Erb-
sünde nach der Meynung der Geistlichen?
Ein Kind der Dogmatik. Der erste schlechte
Erzieher, der sich entschuldigen wolte, erfand
dies Namenspiel.


Wie kann sich aber der Mensch bey dem
Bewußtseyn, gesündiget zu haben, beruhigen?
Es giebt im eigentlichen Sinn nur Sünde
wider seinen Nächsten. Wir sündigen wider
Gott in so weit, als wir unsern Bruder belei-
digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern

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uͤber die Schranken der menſchlichen Natur
geht, kann der Schoͤpfer nicht fordern. Es
giebt keinen allgemeinen guten, und keinen
allgemeinen boͤſen Menſchen.


Erbſuͤnde iſt vielleicht Bewußtſeyn von
natuͤrlicher Freyheit, mit der wir alle auf die
Welt kommen, vorzuͤglich ein Curlaͤnder.
Die Herren Theologen nehmen ſie anders.
Ich laſſe ſie bey ihrer Freyheit; allein ich be-
ſtehe auch auf die meinige. In dem Sinn,
wie die Herren Geiſtlichen es nehmen, hat die
Frau v. W — keine Erbſuͤnde, und ſo kenn’
ich viel ohne Erbſuͤnde — Was iſt die Erb-
ſuͤnde nach der Meynung der Geiſtlichen?
Ein Kind der Dogmatik. Der erſte ſchlechte
Erzieher, der ſich entſchuldigen wolte, erfand
dies Namenſpiel.


Wie kann ſich aber der Menſch bey dem
Bewußtſeyn, geſuͤndiget zu haben, beruhigen?
Es giebt im eigentlichen Sinn nur Suͤnde
wider ſeinen Naͤchſten. Wir ſuͤndigen wider
Gott in ſo weit, als wir unſern Bruder belei-
digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern

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[231/0237] uͤber die Schranken der menſchlichen Natur geht, kann der Schoͤpfer nicht fordern. Es giebt keinen allgemeinen guten, und keinen allgemeinen boͤſen Menſchen. Erbſuͤnde iſt vielleicht Bewußtſeyn von natuͤrlicher Freyheit, mit der wir alle auf die Welt kommen, vorzuͤglich ein Curlaͤnder. Die Herren Theologen nehmen ſie anders. Ich laſſe ſie bey ihrer Freyheit; allein ich be- ſtehe auch auf die meinige. In dem Sinn, wie die Herren Geiſtlichen es nehmen, hat die Frau v. W — keine Erbſuͤnde, und ſo kenn’ ich viel ohne Erbſuͤnde — Was iſt die Erb- ſuͤnde nach der Meynung der Geiſtlichen? Ein Kind der Dogmatik. Der erſte ſchlechte Erzieher, der ſich entſchuldigen wolte, erfand dies Namenſpiel. Wie kann ſich aber der Menſch bey dem Bewußtſeyn, geſuͤndiget zu haben, beruhigen? Es giebt im eigentlichen Sinn nur Suͤnde wider ſeinen Naͤchſten. Wir ſuͤndigen wider Gott in ſo weit, als wir unſern Bruder belei- digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern Be- P 4

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/237>, abgerufen am 27.11.2024.