über die Schranken der menschlichen Natur geht, kann der Schöpfer nicht fordern. Es giebt keinen allgemeinen guten, und keinen allgemeinen bösen Menschen.
Erbsünde ist vielleicht Bewußtseyn von natürlicher Freyheit, mit der wir alle auf die Welt kommen, vorzüglich ein Curländer. Die Herren Theologen nehmen sie anders. Ich lasse sie bey ihrer Freyheit; allein ich be- stehe auch auf die meinige. In dem Sinn, wie die Herren Geistlichen es nehmen, hat die Frau v. W -- keine Erbsünde, und so kenn' ich viel ohne Erbsünde -- Was ist die Erb- sünde nach der Meynung der Geistlichen? Ein Kind der Dogmatik. Der erste schlechte Erzieher, der sich entschuldigen wolte, erfand dies Namenspiel.
Wie kann sich aber der Mensch bey dem Bewußtseyn, gesündiget zu haben, beruhigen? Es giebt im eigentlichen Sinn nur Sünde wider seinen Nächsten. Wir sündigen wider Gott in so weit, als wir unsern Bruder belei- digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern
Be-
P 4
uͤber die Schranken der menſchlichen Natur geht, kann der Schoͤpfer nicht fordern. Es giebt keinen allgemeinen guten, und keinen allgemeinen boͤſen Menſchen.
Erbſuͤnde iſt vielleicht Bewußtſeyn von natuͤrlicher Freyheit, mit der wir alle auf die Welt kommen, vorzuͤglich ein Curlaͤnder. Die Herren Theologen nehmen ſie anders. Ich laſſe ſie bey ihrer Freyheit; allein ich be- ſtehe auch auf die meinige. In dem Sinn, wie die Herren Geiſtlichen es nehmen, hat die Frau v. W — keine Erbſuͤnde, und ſo kenn’ ich viel ohne Erbſuͤnde — Was iſt die Erb- ſuͤnde nach der Meynung der Geiſtlichen? Ein Kind der Dogmatik. Der erſte ſchlechte Erzieher, der ſich entſchuldigen wolte, erfand dies Namenſpiel.
Wie kann ſich aber der Menſch bey dem Bewußtſeyn, geſuͤndiget zu haben, beruhigen? Es giebt im eigentlichen Sinn nur Suͤnde wider ſeinen Naͤchſten. Wir ſuͤndigen wider Gott in ſo weit, als wir unſern Bruder belei- digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern
Be-
P 4
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0237"n="231"/>
uͤber die Schranken der menſchlichen Natur<lb/>
geht, kann der Schoͤpfer nicht fordern. Es<lb/>
giebt keinen allgemeinen guten, und keinen<lb/>
allgemeinen boͤſen Menſchen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Erbſuͤnde iſt vielleicht Bewußtſeyn von<lb/>
natuͤrlicher Freyheit, mit der wir alle auf die<lb/>
Welt kommen, vorzuͤglich ein Curlaͤnder.<lb/>
Die Herren Theologen nehmen ſie anders.<lb/>
Ich laſſe ſie bey ihrer Freyheit; allein ich be-<lb/>ſtehe auch auf die meinige. In dem Sinn,<lb/>
wie die Herren Geiſtlichen es nehmen, hat die<lb/>
Frau v. W — keine Erbſuͤnde, und ſo kenn’<lb/>
ich viel ohne Erbſuͤnde — Was iſt die Erb-<lb/>ſuͤnde nach der Meynung der Geiſtlichen?<lb/>
Ein Kind der Dogmatik. Der erſte ſchlechte<lb/>
Erzieher, der ſich entſchuldigen wolte, erfand<lb/>
dies Namenſpiel.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Wie kann ſich aber der Menſch bey dem<lb/>
Bewußtſeyn, geſuͤndiget zu haben, beruhigen?<lb/>
Es giebt im eigentlichen Sinn nur Suͤnde<lb/>
wider ſeinen Naͤchſten. Wir ſuͤndigen wider<lb/>
Gott in ſo weit, als wir unſern Bruder belei-<lb/>
digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern<lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Be-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[231/0237]
uͤber die Schranken der menſchlichen Natur
geht, kann der Schoͤpfer nicht fordern. Es
giebt keinen allgemeinen guten, und keinen
allgemeinen boͤſen Menſchen.
Erbſuͤnde iſt vielleicht Bewußtſeyn von
natuͤrlicher Freyheit, mit der wir alle auf die
Welt kommen, vorzuͤglich ein Curlaͤnder.
Die Herren Theologen nehmen ſie anders.
Ich laſſe ſie bey ihrer Freyheit; allein ich be-
ſtehe auch auf die meinige. In dem Sinn,
wie die Herren Geiſtlichen es nehmen, hat die
Frau v. W — keine Erbſuͤnde, und ſo kenn’
ich viel ohne Erbſuͤnde — Was iſt die Erb-
ſuͤnde nach der Meynung der Geiſtlichen?
Ein Kind der Dogmatik. Der erſte ſchlechte
Erzieher, der ſich entſchuldigen wolte, erfand
dies Namenſpiel.
Wie kann ſich aber der Menſch bey dem
Bewußtſeyn, geſuͤndiget zu haben, beruhigen?
Es giebt im eigentlichen Sinn nur Suͤnde
wider ſeinen Naͤchſten. Wir ſuͤndigen wider
Gott in ſo weit, als wir unſern Bruder belei-
digen. Die Liebe zu Gott hat keinen andern
Be-
P 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/237>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.