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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

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die sich nur aus dem Staat erklären lassen,
und alsdann ist die Vernunft, auf den Staat
angewendet, der Grund des Gesetzes. Wenn
man die positiven Gesetze aus diesem Gesichts-
punkte nimmt, wie ehrwürdig sind sie! Sind
sie nicht der moralische Catechismus des
Volks? Wo ist solch ein Codex? Ich habe
noch keinen von dieser Art gesehen.

Ich will mich nicht über die positiven
göttlichen Gesetze auslassen. Die Frage: ob
es allgemeine göttliche positive Gesetze geben
könne? kann wohl keinem Streit unterwor-
fen seyn, da es bey dieser Frage auf die Frage
ankommt: ob es Gesetze giebt, die aus der
Natur nicht zu erkennen, und die Gott, aus-
ser dem dem menschlichen Geschlecht eröfnet
hat? Giebts solche? Diese Frage ist streitig.
Herr v. G -- nahm das Wort: streitig? sagte
er. Unstreitig ists, daß es keine dergleichen
giebt, und gegeben hat und geben kann.
Mein Vater fuhr fort:

Jeder Staat ist eine Theokratie. Gott
ist nicht fern von einem jeglichen unter uns.
In ihm leben, weben und sind wir. Das
jüdische Volk behauptet, daß es im besondern
Sinn Gottes Volk wäre, obgleich es sich am
wenigsten als ein Volk Gottes unter allen

Völ-

die ſich nur aus dem Staat erklaͤren laſſen,
und alsdann iſt die Vernunft, auf den Staat
angewendet, der Grund des Geſetzes. Wenn
man die poſitiven Geſetze aus dieſem Geſichts-
punkte nimmt, wie ehrwuͤrdig ſind ſie! Sind
ſie nicht der moraliſche Catechismus des
Volks? Wo iſt ſolch ein Codex? Ich habe
noch keinen von dieſer Art geſehen.

Ich will mich nicht uͤber die poſitiven
goͤttlichen Geſetze auslaſſen. Die Frage: ob
es allgemeine goͤttliche poſitive Geſetze geben
koͤnne? kann wohl keinem Streit unterwor-
fen ſeyn, da es bey dieſer Frage auf die Frage
ankommt: ob es Geſetze giebt, die aus der
Natur nicht zu erkennen, und die Gott, auſ-
ſer dem dem menſchlichen Geſchlecht eroͤfnet
hat? Giebts ſolche? Dieſe Frage iſt ſtreitig.
Herr v. G — nahm das Wort: ſtreitig? ſagte
er. Unſtreitig iſts, daß es keine dergleichen
giebt, und gegeben hat und geben kann.
Mein Vater fuhr fort:

Jeder Staat iſt eine Theokratie. Gott
iſt nicht fern von einem jeglichen unter uns.
In ihm leben, weben und ſind wir. Das
juͤdiſche Volk behauptet, daß es im beſondern
Sinn Gottes Volk waͤre, obgleich es ſich am
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[191/0197] die ſich nur aus dem Staat erklaͤren laſſen, und alsdann iſt die Vernunft, auf den Staat angewendet, der Grund des Geſetzes. Wenn man die poſitiven Geſetze aus dieſem Geſichts- punkte nimmt, wie ehrwuͤrdig ſind ſie! Sind ſie nicht der moraliſche Catechismus des Volks? Wo iſt ſolch ein Codex? Ich habe noch keinen von dieſer Art geſehen. Ich will mich nicht uͤber die poſitiven goͤttlichen Geſetze auslaſſen. Die Frage: ob es allgemeine goͤttliche poſitive Geſetze geben koͤnne? kann wohl keinem Streit unterwor- fen ſeyn, da es bey dieſer Frage auf die Frage ankommt: ob es Geſetze giebt, die aus der Natur nicht zu erkennen, und die Gott, auſ- ſer dem dem menſchlichen Geſchlecht eroͤfnet hat? Giebts ſolche? Dieſe Frage iſt ſtreitig. Herr v. G — nahm das Wort: ſtreitig? ſagte er. Unſtreitig iſts, daß es keine dergleichen giebt, und gegeben hat und geben kann. Mein Vater fuhr fort: Jeder Staat iſt eine Theokratie. Gott iſt nicht fern von einem jeglichen unter uns. In ihm leben, weben und ſind wir. Das juͤdiſche Volk behauptet, daß es im beſondern Sinn Gottes Volk waͤre, obgleich es ſich am wenigſten als ein Volk Gottes unter allen Voͤl-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/197>, abgerufen am 24.11.2024.