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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

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Der Vogel sitze länger um seine Jungen zu
brüten, und verlaße das Nest, ehe seine Nach-
welt einen Flug gethan. Ein Schwindelgeist
sey unter ihre Jugend ausgegossen, daß sie
wie Trunkenbolde laufen, wie aufgerafte
Mittagsschläfer. Ihr Alter sey wie Rohr,
das der Wind hin und herbeugt! -- Ver-
zagtheit wohne in ihren Städten, und bey
dem kleinsten Uebel recke jeder seine Hand wie
ein Ertrinkender, wenn er sie zum letzten-
mahl reckt." -- Die Propheten, behauptete
sie, fluchten schön und -- wer lese nicht gern
solche Flüche? --

Eine feine Flucherin! Ich schreibe mir
nichts hinters Ohr, sagte sie, und that auch
also. Ich habe mit keinem Menschen ein
Hühnchen zu pflücken. Wahrlich! sie war
ein schöner nordischer Maytag. Sie war
nicht eine Fläche, die dem Auge nicht hinrei-
chend Nahrung giebt! Ein Berg, eine Kan-
zel Gottes, gränzte an ihr Thal. --

Einen Plan machen konnte sie nicht. Sie
schlug nicht Alleen im Walde, sondern, nach-
dem es die Gelegenheit gab, hier und da
einen Stamm. Zum ersten besten Bahn-
bruch war sie nicht aufgelegt. Sie selbst
aber wußte ein und aus.

Mein

Der Vogel ſitze laͤnger um ſeine Jungen zu
bruͤten, und verlaße das Neſt, ehe ſeine Nach-
welt einen Flug gethan. Ein Schwindelgeiſt
ſey unter ihre Jugend ausgegoſſen, daß ſie
wie Trunkenbolde laufen, wie aufgerafte
Mittagsſchlaͤfer. Ihr Alter ſey wie Rohr,
das der Wind hin und herbeugt! — Ver-
zagtheit wohne in ihren Staͤdten, und bey
dem kleinſten Uebel recke jeder ſeine Hand wie
ein Ertrinkender, wenn er ſie zum letzten-
mahl reckt.“ — Die Propheten, behauptete
ſie, fluchten ſchoͤn und — wer leſe nicht gern
ſolche Fluͤche? —

Eine feine Flucherin! Ich ſchreibe mir
nichts hinters Ohr, ſagte ſie, und that auch
alſo. Ich habe mit keinem Menſchen ein
Huͤhnchen zu pfluͤcken. Wahrlich! ſie war
ein ſchoͤner nordiſcher Maytag. Sie war
nicht eine Flaͤche, die dem Auge nicht hinrei-
chend Nahrung giebt! Ein Berg, eine Kan-
zel Gottes, graͤnzte an ihr Thal. —

Einen Plan machen konnte ſie nicht. Sie
ſchlug nicht Alleen im Walde, ſondern, nach-
dem es die Gelegenheit gab, hier und da
einen Stamm. Zum erſten beſten Bahn-
bruch war ſie nicht aufgelegt. Sie ſelbſt
aber wußte ein und aus.

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[141/0147] Der Vogel ſitze laͤnger um ſeine Jungen zu bruͤten, und verlaße das Neſt, ehe ſeine Nach- welt einen Flug gethan. Ein Schwindelgeiſt ſey unter ihre Jugend ausgegoſſen, daß ſie wie Trunkenbolde laufen, wie aufgerafte Mittagsſchlaͤfer. Ihr Alter ſey wie Rohr, das der Wind hin und herbeugt! — Ver- zagtheit wohne in ihren Staͤdten, und bey dem kleinſten Uebel recke jeder ſeine Hand wie ein Ertrinkender, wenn er ſie zum letzten- mahl reckt.“ — Die Propheten, behauptete ſie, fluchten ſchoͤn und — wer leſe nicht gern ſolche Fluͤche? — Eine feine Flucherin! Ich ſchreibe mir nichts hinters Ohr, ſagte ſie, und that auch alſo. Ich habe mit keinem Menſchen ein Huͤhnchen zu pfluͤcken. Wahrlich! ſie war ein ſchoͤner nordiſcher Maytag. Sie war nicht eine Flaͤche, die dem Auge nicht hinrei- chend Nahrung giebt! Ein Berg, eine Kan- zel Gottes, graͤnzte an ihr Thal. — Einen Plan machen konnte ſie nicht. Sie ſchlug nicht Alleen im Walde, ſondern, nach- dem es die Gelegenheit gab, hier und da einen Stamm. Zum erſten beſten Bahn- bruch war ſie nicht aufgelegt. Sie ſelbſt aber wußte ein und aus. Mein

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/147>, abgerufen am 24.11.2024.