im Kopf hatten. Unser Gestorbene schien auch beym Verlust seiner Augen eines andern Heils gewis zu seyn. Das war Aussicht. Die Rück- sicht? Sich selbst von Jugendsünden zugezo- gener Sterbensschmerz schien auf der Stirn zu runzeln: allein kein Bewustseyn, seinen Nächsten um funfzig Procent gebracht zu ha- ben, kein Betrug, kein Bubenstück. Die Un- terlippe biß die obere ein, doch verwundete sie solche nicht. -- Paete, non dolet. Oberlippe, es thut nicht weh, schien die Unterlippe der Oberlippe aufbeißen zu wollen. Just dann schmerzt es aber, wenn man sagt, es schmerzt nicht. Man bespricht den Schmerz, wenn man spricht, indem es weh thut, wenigstens glaubt man ihn zu besprechen. --
Solten Sie denken, meine Herren, sagte der Graf, es ist ein bloßer Gottverehrer -- der, wie er mir bekannt hat, den lieben Gott blos in seiner lieben gütigen Natur gesehen, ge- kannt und sich drob gefreut hat. Denn Gott ist nicht ferne von einem Jeglichen. Den feu- rigen Busch der Religion hat er nicht gesehen. Er blieb seinem Naturglauben und Vernunfts- Catechismus, der nur einen Artikel hat, treu! Ich kann nicht, sagt' er, wenn ich gleich wolte; allein ich habe keinen in seinen drey Artikeln
gestöhrt,
im Kopf hatten. Unſer Geſtorbene ſchien auch beym Verluſt ſeiner Augen eines andern Heils gewis zu ſeyn. Das war Ausſicht. Die Ruͤck- ſicht? Sich ſelbſt von Jugendſuͤnden zugezo- gener Sterbensſchmerz ſchien auf der Stirn zu runzeln: allein kein Bewuſtſeyn, ſeinen Naͤchſten um funfzig Procent gebracht zu ha- ben, kein Betrug, kein Bubenſtuͤck. Die Un- terlippe biß die obere ein, doch verwundete ſie ſolche nicht. — Paete, non dolet. Oberlippe, es thut nicht weh, ſchien die Unterlippe der Oberlippe aufbeißen zu wollen. Juſt dann ſchmerzt es aber, wenn man ſagt, es ſchmerzt nicht. Man beſpricht den Schmerz, wenn man ſpricht, indem es weh thut, wenigſtens glaubt man ihn zu beſprechen. —
Solten Sie denken, meine Herren, ſagte der Graf, es iſt ein bloßer Gottverehrer — der, wie er mir bekannt hat, den lieben Gott blos in ſeiner lieben guͤtigen Natur geſehen, ge- kannt und ſich drob gefreut hat. Denn Gott iſt nicht ferne von einem Jeglichen. Den feu- rigen Buſch der Religion hat er nicht geſehen. Er blieb ſeinem Naturglauben und Vernunfts- Catechismus, der nur einen Artikel hat, treu! Ich kann nicht, ſagt’ er, wenn ich gleich wolte; allein ich habe keinen in ſeinen drey Artikeln
geſtoͤhrt,
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im Kopf hatten. Unſer Geſtorbene ſchien auch
beym Verluſt ſeiner Augen eines andern Heils
gewis zu ſeyn. Das war Ausſicht. Die Ruͤck-
ſicht? Sich ſelbſt von Jugendſuͤnden zugezo-
gener Sterbensſchmerz ſchien auf der Stirn
zu runzeln: allein kein Bewuſtſeyn, ſeinen
Naͤchſten um funfzig Procent gebracht zu ha-
ben, kein Betrug, kein Bubenſtuͤck. Die Un-
terlippe biß die obere ein, doch verwundete ſie
ſolche nicht. — Paete, non dolet. Oberlippe,
es thut nicht weh, ſchien die Unterlippe der
Oberlippe aufbeißen zu wollen. Juſt dann
ſchmerzt es aber, wenn man ſagt, es ſchmerzt
nicht. Man beſpricht den Schmerz, wenn
man ſpricht, indem es weh thut, wenigſtens
glaubt man ihn zu beſprechen. —
Solten Sie denken, meine Herren, ſagte
der Graf, es iſt ein bloßer Gottverehrer —
der, wie er mir bekannt hat, den lieben Gott
blos in ſeiner lieben guͤtigen Natur geſehen, ge-
kannt und ſich drob gefreut hat. Denn Gott
iſt nicht ferne von einem Jeglichen. Den feu-
rigen Buſch der Religion hat er nicht geſehen.
Er blieb ſeinem Naturglauben und Vernunfts-
Catechismus, der nur einen Artikel hat, treu!
Ich kann nicht, ſagt’ er, wenn ich gleich wolte;
allein ich habe keinen in ſeinen drey Artikeln
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/82>, abgerufen am 23.11.2024.
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