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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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was sind sie? Wahrlich, doppelter Tod wär'
eine Ungerechtigkeit. Wittwe! warum die
tiefen Thränen? Zwar wird er nicht zu dir
kommen, aber du zu ihm. Weine nicht, ruft
dir der Herr zu, deßen Herz auf den Grund
bewegt war, und auch vor Schmerz, vor
Mitleid übergieng. So können nur trau-
ren, die keine Hofnungen haben. Ists nicht
gut, daß ein Weltknoten nach dem andern ge-
löset wird, und daß ihr Bekannte in der Stadt
Gottes habt, welches euch gut, und wahrlich
beßer, als ein Freund am Hofe ist. Die
Zeit tröstet den Weisen, beweise, christliches
Weib, daß du auf die Zeit nicht warten
darfst, und auf die Stunde, wenn es ihr ge-
legen ist. Die Ewigkeit sey dein Trost: die
auf der Stelle lindert, verbindet, heilet! Es
giebt ein allgemeines Ziel, spricht Sirach,
hundert Jahr; allein dies ist ein apocryphi-
sches Ziel. Moses verkündiget fein cano-
nisch: unser Leben währet siebenzig Jahr,
wenns hoch kommt, sinds achtzig, wenn es
köstlich gewesen, ists Mühe und Arbeit gewe-
sen; denn es fähret schnell dahin, als flögen
wir davon! Der Christ sucht dieses Ziel nicht
zu verrücken, er welzt den Grabes Grenzstein
nicht weiter, übt sich, indem er den Lüsten

und
O 3

was ſind ſie? Wahrlich, doppelter Tod waͤr’
eine Ungerechtigkeit. Wittwe! warum die
tiefen Thraͤnen? Zwar wird er nicht zu dir
kommen, aber du zu ihm. Weine nicht, ruft
dir der Herr zu, deßen Herz auf den Grund
bewegt war, und auch vor Schmerz, vor
Mitleid uͤbergieng. So koͤnnen nur trau-
ren, die keine Hofnungen haben. Iſts nicht
gut, daß ein Weltknoten nach dem andern ge-
loͤſet wird, und daß ihr Bekannte in der Stadt
Gottes habt, welches euch gut, und wahrlich
beßer, als ein Freund am Hofe iſt. Die
Zeit troͤſtet den Weiſen, beweiſe, chriſtliches
Weib, daß du auf die Zeit nicht warten
darfſt, und auf die Stunde, wenn es ihr ge-
legen iſt. Die Ewigkeit ſey dein Troſt: die
auf der Stelle lindert, verbindet, heilet! Es
giebt ein allgemeines Ziel, ſpricht Sirach,
hundert Jahr; allein dies iſt ein apocryphi-
ſches Ziel. Moſes verkuͤndiget fein cano-
niſch: unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahr,
wenns hoch kommt, ſinds achtzig, wenn es
koͤſtlich geweſen, iſts Muͤhe und Arbeit gewe-
ſen; denn es faͤhret ſchnell dahin, als floͤgen
wir davon! Der Chriſt ſucht dieſes Ziel nicht
zu verruͤcken, er welzt den Grabes Grenzſtein
nicht weiter, uͤbt ſich, indem er den Luͤſten

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[213/0219] was ſind ſie? Wahrlich, doppelter Tod waͤr’ eine Ungerechtigkeit. Wittwe! warum die tiefen Thraͤnen? Zwar wird er nicht zu dir kommen, aber du zu ihm. Weine nicht, ruft dir der Herr zu, deßen Herz auf den Grund bewegt war, und auch vor Schmerz, vor Mitleid uͤbergieng. So koͤnnen nur trau- ren, die keine Hofnungen haben. Iſts nicht gut, daß ein Weltknoten nach dem andern ge- loͤſet wird, und daß ihr Bekannte in der Stadt Gottes habt, welches euch gut, und wahrlich beßer, als ein Freund am Hofe iſt. Die Zeit troͤſtet den Weiſen, beweiſe, chriſtliches Weib, daß du auf die Zeit nicht warten darfſt, und auf die Stunde, wenn es ihr ge- legen iſt. Die Ewigkeit ſey dein Troſt: die auf der Stelle lindert, verbindet, heilet! Es giebt ein allgemeines Ziel, ſpricht Sirach, hundert Jahr; allein dies iſt ein apocryphi- ſches Ziel. Moſes verkuͤndiget fein cano- niſch: unſer Leben waͤhret ſiebenzig Jahr, wenns hoch kommt, ſinds achtzig, wenn es koͤſtlich geweſen, iſts Muͤhe und Arbeit gewe- ſen; denn es faͤhret ſchnell dahin, als floͤgen wir davon! Der Chriſt ſucht dieſes Ziel nicht zu verruͤcken, er welzt den Grabes Grenzſtein nicht weiter, uͤbt ſich, indem er den Luͤſten und O 3

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/219>, abgerufen am 25.11.2024.