Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

wäre? Was sagt euch euer Herz? -- Will
ich denn, daß ihr einen Riß von der Stadt
Gottes, vom himmlischen Jerusalem, entwer-
fen solt? Es ist mir genug, wenn ihr nur
alle menschmögliche Wahrscheinlichkeit für die
andre Welt findet.

So gut leben, daß, wenn eine andre
Welt, schön wie Sonne, aufgeht, unser
Bürgerrecht in derselben gewisser, wie Brief
und Siegel ist, das heißt mit andern Wor-
ten: der andern Welt würdig seyn! -- Je
besser der Acker, je mehr Unkraut! -- Vor-
witz ist unächtes Kind des menschlichen Ver-
standes, eine Anlage zur Vorschnelligkeit,
eine Krankheit des Scharfsinns, ein helles
Glöckchen in der Thorheitskappe. Wir wol-
len uns entschliessen, wie einer unserer Vor-
fahren, zu bekennen, daß wir nichts wis-
sen,
daß wir hie und da Wahrscheinlichkeiten
haben; allein im Thun komm' uns niemand
zuvor. Weder Waghälse noch Wagköpfe tau-
gen viel.

Der Ansdruck: seine Seel in Händen
tragen, heißt, wenn ihn Philosophen brau-
chen, so viel, als gute Gestus machen. Wir
wollen uns weniger um das für und wider,
diese oder jene Meynung, bekümmern, als

bereit
N 3

waͤre? Was ſagt euch euer Herz? — Will
ich denn, daß ihr einen Riß von der Stadt
Gottes, vom himmliſchen Jeruſalem, entwer-
fen ſolt? Es iſt mir genug, wenn ihr nur
alle menſchmoͤgliche Wahrſcheinlichkeit fuͤr die
andre Welt findet.

So gut leben, daß, wenn eine andre
Welt, ſchoͤn wie Sonne, aufgeht, unſer
Buͤrgerrecht in derſelben gewiſſer, wie Brief
und Siegel iſt, das heißt mit andern Wor-
ten: der andern Welt wuͤrdig ſeyn! — Je
beſſer der Acker, je mehr Unkraut! — Vor-
witz iſt unaͤchtes Kind des menſchlichen Ver-
ſtandes, eine Anlage zur Vorſchnelligkeit,
eine Krankheit des Scharfſinns, ein helles
Gloͤckchen in der Thorheitskappe. Wir wol-
len uns entſchlieſſen, wie einer unſerer Vor-
fahren, zu bekennen, daß wir nichts wiſ-
ſen,
daß wir hie und da Wahrſcheinlichkeiten
haben; allein im Thun komm’ uns niemand
zuvor. Weder Waghaͤlſe noch Wagkoͤpfe tau-
gen viel.

Der Ansdruck: ſeine Seel in Haͤnden
tragen, heißt, wenn ihn Philoſophen brau-
chen, ſo viel, als gute Geſtus machen. Wir
wollen uns weniger um das fuͤr und wider,
dieſe oder jene Meynung, bekuͤmmern, als

bereit
N 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0203" n="197"/>
wa&#x0364;re? Was &#x017F;agt euch euer Herz? &#x2014; Will<lb/>
ich denn, daß ihr einen Riß von der Stadt<lb/>
Gottes, vom himmli&#x017F;chen Jeru&#x017F;alem, entwer-<lb/>
fen &#x017F;olt? Es i&#x017F;t mir genug, wenn ihr nur<lb/>
alle men&#x017F;chmo&#x0364;gliche Wahr&#x017F;cheinlichkeit fu&#x0364;r die<lb/>
andre Welt findet.</p><lb/>
        <p>So gut leben, daß, wenn eine andre<lb/>
Welt, &#x017F;cho&#x0364;n wie Sonne, aufgeht, un&#x017F;er<lb/>
Bu&#x0364;rgerrecht in der&#x017F;elben gewi&#x017F;&#x017F;er, wie Brief<lb/>
und Siegel i&#x017F;t, das heißt mit andern Wor-<lb/>
ten: der andern Welt wu&#x0364;rdig &#x017F;eyn! &#x2014; Je<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er der Acker, je mehr Unkraut! &#x2014; Vor-<lb/>
witz i&#x017F;t una&#x0364;chtes Kind des men&#x017F;chlichen Ver-<lb/>
&#x017F;tandes, eine Anlage zur Vor&#x017F;chnelligkeit,<lb/>
eine Krankheit des Scharf&#x017F;inns, ein helles<lb/>
Glo&#x0364;ckchen in der Thorheitskappe. Wir wol-<lb/>
len uns ent&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, wie einer un&#x017F;erer Vor-<lb/>
fahren, zu bekennen, <hi rendition="#fr">daß wir nichts wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en,</hi> daß wir hie und da Wahr&#x017F;cheinlichkeiten<lb/>
haben; allein im Thun komm&#x2019; uns niemand<lb/>
zuvor. Weder Wagha&#x0364;l&#x017F;e noch Wagko&#x0364;pfe tau-<lb/>
gen viel.</p><lb/>
        <p>Der Ansdruck: &#x017F;eine Seel in Ha&#x0364;nden<lb/>
tragen, heißt, wenn ihn Philo&#x017F;ophen brau-<lb/>
chen, &#x017F;o viel, als gute Ge&#x017F;tus machen. Wir<lb/>
wollen uns weniger um das fu&#x0364;r und <hi rendition="#fr">wider,</hi><lb/>
die&#x017F;e oder jene Meynung, beku&#x0364;mmern, als<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 3</fw><fw place="bottom" type="catch">bereit</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197/0203] waͤre? Was ſagt euch euer Herz? — Will ich denn, daß ihr einen Riß von der Stadt Gottes, vom himmliſchen Jeruſalem, entwer- fen ſolt? Es iſt mir genug, wenn ihr nur alle menſchmoͤgliche Wahrſcheinlichkeit fuͤr die andre Welt findet. So gut leben, daß, wenn eine andre Welt, ſchoͤn wie Sonne, aufgeht, unſer Buͤrgerrecht in derſelben gewiſſer, wie Brief und Siegel iſt, das heißt mit andern Wor- ten: der andern Welt wuͤrdig ſeyn! — Je beſſer der Acker, je mehr Unkraut! — Vor- witz iſt unaͤchtes Kind des menſchlichen Ver- ſtandes, eine Anlage zur Vorſchnelligkeit, eine Krankheit des Scharfſinns, ein helles Gloͤckchen in der Thorheitskappe. Wir wol- len uns entſchlieſſen, wie einer unſerer Vor- fahren, zu bekennen, daß wir nichts wiſ- ſen, daß wir hie und da Wahrſcheinlichkeiten haben; allein im Thun komm’ uns niemand zuvor. Weder Waghaͤlſe noch Wagkoͤpfe tau- gen viel. Der Ansdruck: ſeine Seel in Haͤnden tragen, heißt, wenn ihn Philoſophen brau- chen, ſo viel, als gute Geſtus machen. Wir wollen uns weniger um das fuͤr und wider, dieſe oder jene Meynung, bekuͤmmern, als bereit N 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/203
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/203>, abgerufen am 22.11.2024.