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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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sich die andächtigen Zuhörer das Leben nah-
men, da Hegesias die Mühseligkeiten dieses
Lebens beschrieb. Die Freude des Lebens, ist
sie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner-
liche Lust? Wir begrüsten die Welt mit Thrä-
nen und wahrlich: Lachen, du bist toll! He-
gesias,
du hattest halbe Arbeit, deine Zuhö-
rer waren schon vor deiner Rede überzeugt!
Weit mehr ists bedenklich, daß sich eine le-
bendige Seele über ein Buch, das ein Christ
von der andern Welt geschrieben hatte, das
Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die
Neugier ist, wenn ich nicht irre, von dieser
Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was
wünschenswürdiges; die Sinnlichkeit, als ei-
nen König der Schrecken. Nicht die viel den-
ken, sondern die viel thun, verpflichten sich
mit dem Leben. Der Mensch lebt, die meiste
Zeit, wie das liebe Vieh, und noch öfter stirbt
er so. Warum? Die Vernunft ist dem Men-
schen gegeben, um Tod und Leben zu würzen,
und jedem von beyden seinen Jahreszeitge-
schmack beyzulegen. Sie besitzt die einfachen
Hausmittel, die uns im Leben und Sterben
wo nicht froh, so doch getrost zu seyn lehren.
Die Röthe, so sehr sie einnimmt, was ist sie,
Tod oder Leben? Wer, wenn er sein Urtel

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ſich die andaͤchtigen Zuhoͤrer das Leben nah-
men, da Hegeſias die Muͤhſeligkeiten dieſes
Lebens beſchrieb. Die Freude des Lebens, iſt
ſie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner-
liche Luſt? Wir begruͤſten die Welt mit Thraͤ-
nen und wahrlich: Lachen, du biſt toll! He-
geſias,
du hatteſt halbe Arbeit, deine Zuhoͤ-
rer waren ſchon vor deiner Rede uͤberzeugt!
Weit mehr iſts bedenklich, daß ſich eine le-
bendige Seele uͤber ein Buch, das ein Chriſt
von der andern Welt geſchrieben hatte, das
Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die
Neugier iſt, wenn ich nicht irre, von dieſer
Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was
wuͤnſchenswuͤrdiges; die Sinnlichkeit, als ei-
nen Koͤnig der Schrecken. Nicht die viel den-
ken, ſondern die viel thun, verpflichten ſich
mit dem Leben. Der Menſch lebt, die meiſte
Zeit, wie das liebe Vieh, und noch oͤfter ſtirbt
er ſo. Warum? Die Vernunft iſt dem Men-
ſchen gegeben, um Tod und Leben zu wuͤrzen,
und jedem von beyden ſeinen Jahreszeitge-
ſchmack beyzulegen. Sie beſitzt die einfachen
Hausmittel, die uns im Leben und Sterben
wo nicht froh, ſo doch getroſt zu ſeyn lehren.
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[181/0187] ſich die andaͤchtigen Zuhoͤrer das Leben nah- men, da Hegeſias die Muͤhſeligkeiten dieſes Lebens beſchrieb. Die Freude des Lebens, iſt ſie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner- liche Luſt? Wir begruͤſten die Welt mit Thraͤ- nen und wahrlich: Lachen, du biſt toll! He- geſias, du hatteſt halbe Arbeit, deine Zuhoͤ- rer waren ſchon vor deiner Rede uͤberzeugt! Weit mehr iſts bedenklich, daß ſich eine le- bendige Seele uͤber ein Buch, das ein Chriſt von der andern Welt geſchrieben hatte, das Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die Neugier iſt, wenn ich nicht irre, von dieſer Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was wuͤnſchenswuͤrdiges; die Sinnlichkeit, als ei- nen Koͤnig der Schrecken. Nicht die viel den- ken, ſondern die viel thun, verpflichten ſich mit dem Leben. Der Menſch lebt, die meiſte Zeit, wie das liebe Vieh, und noch oͤfter ſtirbt er ſo. Warum? Die Vernunft iſt dem Men- ſchen gegeben, um Tod und Leben zu wuͤrzen, und jedem von beyden ſeinen Jahreszeitge- ſchmack beyzulegen. Sie beſitzt die einfachen Hausmittel, die uns im Leben und Sterben wo nicht froh, ſo doch getroſt zu ſeyn lehren. Die Roͤthe, ſo ſehr ſie einnimmt, was iſt ſie, Tod oder Leben? Wer, wenn er ſein Urtel uͤber M 3

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/187>, abgerufen am 23.11.2024.