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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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Werken trachtet nach dem ewigen Leben, hat
vom Herrn selbst sterben gelernt, und beden-
ket, daß es ein Ende mit ihm habe, und er
davon müße, daß das Leben einem Faden
gleich sey, der in der Hand des Webers so
leicht abgerißen wird. Seht euch um, Lilien
knicken, Eichen stürzen. Ein kleiner Wurm
sticht die schönste Blume, und manche wird,
wie Cäsar, mit drey und zwanzig Wunden
erstochen durch und durch. Ein Nebel fällt
uns auf die Brust, und unsere Stäte ist nicht
mehr. Wir müßen wirken, ehe die Nacht
kommt. Wir müßen, wie alle Weisen es
thaten, sterben, ehe wir sterben, wir müßen
uns absondern und aus der Welt gehen, um
unsere Seele zu retten, wir müßen uns selbst
auflösen, ehe wir aufgelöset werden, und so
wenig den Körper, Fleisch und Blut, aufkom-
men laßen, daß wir je mehr und mehr gei-
stisch werden. Laßt uns, Freunde, beym To-
de uns nicht verwahrlosen. Wer bemühet
sich nicht, sein Kind gesund und unverwahr-
loset aus Mutterleibe zu ziehen? Wißt, un-
sere Seele wird gebohren, wenn wir sterben.
Der Tod ist eine Niederkunft, eine Geburt,
zum andern Leben, und es ist gut, auch auf
diese Geburtsstunde und diese große Sechs-

wochen

Werken trachtet nach dem ewigen Leben, hat
vom Herrn ſelbſt ſterben gelernt, und beden-
ket, daß es ein Ende mit ihm habe, und er
davon muͤße, daß das Leben einem Faden
gleich ſey, der in der Hand des Webers ſo
leicht abgerißen wird. Seht euch um, Lilien
knicken, Eichen ſtuͤrzen. Ein kleiner Wurm
ſticht die ſchoͤnſte Blume, und manche wird,
wie Caͤſar, mit drey und zwanzig Wunden
erſtochen durch und durch. Ein Nebel faͤllt
uns auf die Bruſt, und unſere Staͤte iſt nicht
mehr. Wir muͤßen wirken, ehe die Nacht
kommt. Wir muͤßen, wie alle Weiſen es
thaten, ſterben, ehe wir ſterben, wir muͤßen
uns abſondern und aus der Welt gehen, um
unſere Seele zu retten, wir muͤßen uns ſelbſt
aufloͤſen, ehe wir aufgeloͤſet werden, und ſo
wenig den Koͤrper, Fleiſch und Blut, aufkom-
men laßen, daß wir je mehr und mehr gei-
ſtiſch werden. Laßt uns, Freunde, beym To-
de uns nicht verwahrloſen. Wer bemuͤhet
ſich nicht, ſein Kind geſund und unverwahr-
loſet aus Mutterleibe zu ziehen? Wißt, un-
ſere Seele wird gebohren, wenn wir ſterben.
Der Tod iſt eine Niederkunft, eine Geburt,
zum andern Leben, und es iſt gut, auch auf
dieſe Geburtsſtunde und dieſe große Sechs-

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[170/0176] Werken trachtet nach dem ewigen Leben, hat vom Herrn ſelbſt ſterben gelernt, und beden- ket, daß es ein Ende mit ihm habe, und er davon muͤße, daß das Leben einem Faden gleich ſey, der in der Hand des Webers ſo leicht abgerißen wird. Seht euch um, Lilien knicken, Eichen ſtuͤrzen. Ein kleiner Wurm ſticht die ſchoͤnſte Blume, und manche wird, wie Caͤſar, mit drey und zwanzig Wunden erſtochen durch und durch. Ein Nebel faͤllt uns auf die Bruſt, und unſere Staͤte iſt nicht mehr. Wir muͤßen wirken, ehe die Nacht kommt. Wir muͤßen, wie alle Weiſen es thaten, ſterben, ehe wir ſterben, wir muͤßen uns abſondern und aus der Welt gehen, um unſere Seele zu retten, wir muͤßen uns ſelbſt aufloͤſen, ehe wir aufgeloͤſet werden, und ſo wenig den Koͤrper, Fleiſch und Blut, aufkom- men laßen, daß wir je mehr und mehr gei- ſtiſch werden. Laßt uns, Freunde, beym To- de uns nicht verwahrloſen. Wer bemuͤhet ſich nicht, ſein Kind geſund und unverwahr- loſet aus Mutterleibe zu ziehen? Wißt, un- ſere Seele wird gebohren, wenn wir ſterben. Der Tod iſt eine Niederkunft, eine Geburt, zum andern Leben, und es iſt gut, auch auf dieſe Geburtsſtunde und dieſe große Sechs- wochen

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/176>, abgerufen am 23.11.2024.