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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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Pastor sagte mir, als etwas ganz Neues,
daß die Gleichmüthigkeit zum Charakter ge-
höre, die Gleichgültigkeit zum Tempera-
ment. -- Ich wußte so gut und besser, wie
der Prediger, daß wenn die Gleichmüthig-
keit aus der Selbstbeherrschung entstehet, sie
bey allen Vorfällen des Lebens das Kleid des
Weisen, und so sehr von der Fühllosigkeit
unterschieden sey, als lieben und verliebt seyn.
-- Was helfen aber all diese Vortreflichkeiten,
die nicht zum Herzen gehen! Minens Leich-
nam machte alle Kunst zu Schanden. Mit
Freuden thaten wir alle auf das Kleid des
Weisen Verzicht, und suchten eine Wonne
drinn, blos Menschen zu seyn, wie die liebe
Mutter Natur sie am liebsten hat! Und am
Ende, Freunde! gehts der abgehärteten
Seele und dem abgehärteten Körper, wie
dem Stahl -- dies und das springt! Ihr!
die ihr den Menschen an Leib und Seele ver-
härten wolt, bedenkt, was wir sind. Ich
bin ein Mensch, heißt das nicht, ich bin
schwach?

Der lezte Abschied, den wir von Minens
zurückgelassenem Theil nahmen, war rüh-
rend! Wir sprachen mit ihm, als könnt'
er hören, wir verstummten, da er nicht ant-

wor-

Paſtor ſagte mir, als etwas ganz Neues,
daß die Gleichmuͤthigkeit zum Charakter ge-
hoͤre, die Gleichguͤltigkeit zum Tempera-
ment. — Ich wußte ſo gut und beſſer, wie
der Prediger, daß wenn die Gleichmuͤthig-
keit aus der Selbſtbeherrſchung entſtehet, ſie
bey allen Vorfaͤllen des Lebens das Kleid des
Weiſen, und ſo ſehr von der Fuͤhlloſigkeit
unterſchieden ſey, als lieben und verliebt ſeyn.
— Was helfen aber all dieſe Vortreflichkeiten,
die nicht zum Herzen gehen! Minens Leich-
nam machte alle Kunſt zu Schanden. Mit
Freuden thaten wir alle auf das Kleid des
Weiſen Verzicht, und ſuchten eine Wonne
drinn, blos Menſchen zu ſeyn, wie die liebe
Mutter Natur ſie am liebſten hat! Und am
Ende, Freunde! gehts der abgehaͤrteten
Seele und dem abgehaͤrteten Koͤrper, wie
dem Stahl — dies und das ſpringt! Ihr!
die ihr den Menſchen an Leib und Seele ver-
haͤrten wolt, bedenkt, was wir ſind. Ich
bin ein Menſch, heißt das nicht, ich bin
ſchwach?

Der lezte Abſchied, den wir von Minens
zuruͤckgelaſſenem Theil nahmen, war ruͤh-
rend! Wir ſprachen mit ihm, als koͤnnt’
er hoͤren, wir verſtummten, da er nicht ant-

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[621/0635] Paſtor ſagte mir, als etwas ganz Neues, daß die Gleichmuͤthigkeit zum Charakter ge- hoͤre, die Gleichguͤltigkeit zum Tempera- ment. — Ich wußte ſo gut und beſſer, wie der Prediger, daß wenn die Gleichmuͤthig- keit aus der Selbſtbeherrſchung entſtehet, ſie bey allen Vorfaͤllen des Lebens das Kleid des Weiſen, und ſo ſehr von der Fuͤhlloſigkeit unterſchieden ſey, als lieben und verliebt ſeyn. — Was helfen aber all dieſe Vortreflichkeiten, die nicht zum Herzen gehen! Minens Leich- nam machte alle Kunſt zu Schanden. Mit Freuden thaten wir alle auf das Kleid des Weiſen Verzicht, und ſuchten eine Wonne drinn, blos Menſchen zu ſeyn, wie die liebe Mutter Natur ſie am liebſten hat! Und am Ende, Freunde! gehts der abgehaͤrteten Seele und dem abgehaͤrteten Koͤrper, wie dem Stahl — dies und das ſpringt! Ihr! die ihr den Menſchen an Leib und Seele ver- haͤrten wolt, bedenkt, was wir ſind. Ich bin ein Menſch, heißt das nicht, ich bin ſchwach? Der lezte Abſchied, den wir von Minens zuruͤckgelaſſenem Theil nahmen, war ruͤh- rend! Wir ſprachen mit ihm, als koͤnnt’ er hoͤren, wir verſtummten, da er nicht ant- wor-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/635>, abgerufen am 24.11.2024.