Glaubt wir, jede Aehre, die ihr abgeschnit- ten habt, wird euch über kurz oder lang im Gewissen schneiden. Wie kann euch Brod an- schlagen, das ihr stehlt? -- Brod stehlen, das heißt so viel, wenn es nicht noch mehr heißt, als vom Altar Gottes nehmen, ohn- erachtet die liebe Sonn hell brennt. Ehe Hungers gestorben, als solch gestohlnes Brod gegessen! Seht! wenn ein Halm dem Stahl des Schnitters entkommen, und wie ver- wayst -- allein unter Stoppeln da sieht! -- Ich nehm' ihn nicht! Steh, sag' ich zu ihm, bis dich der Nord knickt, wie mich das Al- ter! -- Wenn ihr ehrlich Aehren lesen wür- det, ihr Aehrendiebe! wär' es Schand und Sünd: denn könt ihr nicht noch arbeiten, und Glück greifen, wie ichs gegriffen habe, ohne Aehren zu lesen, oder bey Gottes Thür zu betteln? Ich werd' euch nicht lang mehr im Wege seyn! Alle Jahr find' ich weniger Aehren, und immer hab' ich denn auch weniger nöthig. Je älter, je weniger Hunger: je weniger Zähne, je weniger Magen. -- Dies Jahr nur wenige Hände voll Aehren. So wenig hab' ich noch kein Jahr gehabt -- ich glaub', ich habe dies Jahr zum letztenmal ge- lesen. O wie gern, wie gern möcht' ich aus
die
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Glaubt wir, jede Aehre, die ihr abgeſchnit- ten habt, wird euch uͤber kurz oder lang im Gewiſſen ſchneiden. Wie kann euch Brod an- ſchlagen, das ihr ſtehlt? — Brod ſtehlen, das heißt ſo viel, wenn es nicht noch mehr heißt, als vom Altar Gottes nehmen, ohn- erachtet die liebe Sonn hell brennt. Ehe Hungers geſtorben, als ſolch geſtohlnes Brod gegeſſen! Seht! wenn ein Halm dem Stahl des Schnitters entkommen, und wie ver- wayſt — allein unter Stoppeln da ſieht! — Ich nehm’ ihn nicht! Steh, ſag’ ich zu ihm, bis dich der Nord knickt, wie mich das Al- ter! — Wenn ihr ehrlich Aehren leſen wuͤr- det, ihr Aehrendiebe! waͤr’ es Schand und Suͤnd: denn koͤnt ihr nicht noch arbeiten, und Gluͤck greifen, wie ichs gegriffen habe, ohne Aehren zu leſen, oder bey Gottes Thuͤr zu betteln? Ich werd’ euch nicht lang mehr im Wege ſeyn! Alle Jahr find’ ich weniger Aehren, und immer hab’ ich denn auch weniger noͤthig. Je aͤlter, je weniger Hunger: je weniger Zaͤhne, je weniger Magen. — Dies Jahr nur wenige Haͤnde voll Aehren. So wenig hab’ ich noch kein Jahr gehabt — ich glaub’, ich habe dies Jahr zum letztenmal ge- leſen. O wie gern, wie gern moͤcht’ ich aus
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Glaubt wir, jede Aehre, die ihr abgeſchnit-
ten habt, wird euch uͤber kurz oder lang im
Gewiſſen ſchneiden. Wie kann euch Brod an-
ſchlagen, das ihr ſtehlt? — Brod ſtehlen,
das heißt ſo viel, wenn es nicht noch mehr
heißt, als vom Altar Gottes nehmen, ohn-
erachtet die liebe Sonn hell brennt. Ehe
Hungers geſtorben, als ſolch geſtohlnes Brod
gegeſſen! Seht! wenn ein Halm dem Stahl
des Schnitters entkommen, und wie ver-
wayſt — allein unter Stoppeln da ſieht! —
Ich nehm’ ihn nicht! Steh, ſag’ ich zu ihm,
bis dich der Nord knickt, wie mich das Al-
ter! — Wenn ihr ehrlich Aehren leſen wuͤr-
det, ihr Aehrendiebe! waͤr’ es Schand und
Suͤnd: denn koͤnt ihr nicht noch arbeiten,
und Gluͤck greifen, wie ichs gegriffen habe,
ohne Aehren zu leſen, oder bey Gottes Thuͤr
zu betteln? Ich werd’ euch nicht lang mehr
im Wege ſeyn! Alle Jahr find’ ich weniger
Aehren, und immer hab’ ich denn auch weniger
noͤthig. Je aͤlter, je weniger Hunger: je
weniger Zaͤhne, je weniger Magen. — Dies
Jahr nur wenige Haͤnde voll Aehren. So
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glaub’, ich habe dies Jahr zum letztenmal ge-
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/629>, abgerufen am 24.11.2024.
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