ihr alles. -- Sie knieten beyde, Mutter und Tochter, dicht zusammen, und hielten die Hän- de gen Himmel, als wär' es nur eine. -- Sehn- lichst beteten sie um den Tod, und das ist eine große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht erst wem giebt, sondern nur denen er gut ist. Wir sterben zwar alle; allein es kommt beym Tod aufs wenn? an, auf eine erwünschte, das ist, auf eine selige Stunde. Da nimmt man nicht zehn Leben um Einen Tod! -- Die Tochter starb so ruhig, daß man ihr die ewge Seligkeit ansehen konnte. Die Mutter muste noch acht Tag' jammern. Sie hatte keinen Schmerz; allein sie jammerte -- mein Mann todt, meine Tochter todt -- und ich! ich! hab' ein heimtückisches hartes Leben! Schon lange bey Lebenszeit ihres Mannes war sie siech! Der Tod ihrer Tochter hatt' ihr vollends das Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach- ten Tag, daß die Leich' ihrer Tochter auf sie wartete, unbegraben! Auf einen Tag, sagte die Mutter zu ihrer sterbenden Tochter, auf einen Tag, sagte die Tochter. Auf einen Tag, sagten sie sich hundertmal, und auf einen Tag waren auch ihre lezten Worte. Sie starb! o Gott -- fast wie ihre Tochter. Fast! Ganz nicht, denn die Tochter starb noch leichter!
Die
ihr alles. — Sie knieten beyde, Mutter und Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn- de gen Himmel, als waͤr’ es nur eine. — Sehn- lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt. Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte, das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt man nicht zehn Leben um Einen Tod! — Die Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte noch acht Tag’ jammern. Sie hatte keinen Schmerz; allein ſie jammerte — mein Mann todt, meine Tochter todt — und ich! ich! hab’ ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech! Der Tod ihrer Tochter hatt’ ihr vollends das Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach- ten Tag, daß die Leich’ ihrer Tochter auf ſie wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag, ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag waren auch ihre lezten Worte. Sie ſtarb! o Gott — faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter!
Die
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0622"n="610"/>
ihr alles. — Sie knieten beyde, Mutter und<lb/>
Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn-<lb/>
de gen Himmel, als waͤr’ es nur eine. — Sehn-<lb/>
lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine<lb/>
große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht<lb/>
erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt.<lb/>
Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym<lb/>
Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte,<lb/>
das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt<lb/>
man nicht zehn Leben um Einen Tod! — Die<lb/>
Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge<lb/>
Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte<lb/>
noch acht Tag’ jammern. Sie hatte keinen<lb/>
Schmerz; allein ſie jammerte — mein Mann<lb/>
todt, meine Tochter todt — und ich! ich! hab’<lb/>
ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange<lb/>
bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech!<lb/>
Der Tod ihrer Tochter hatt’ ihr vollends das<lb/>
Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach-<lb/>
ten Tag, daß die Leich’ ihrer Tochter auf ſie<lb/>
wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte<lb/>
die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf<lb/>
einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag,<lb/>ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag<lb/>
waren auch ihre lezten Worte. Sie ſtarb!<lb/>
o Gott — faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz<lb/>
nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter!<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Die</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[610/0622]
ihr alles. — Sie knieten beyde, Mutter und
Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn-
de gen Himmel, als waͤr’ es nur eine. — Sehn-
lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine
große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht
erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt.
Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym
Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte,
das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt
man nicht zehn Leben um Einen Tod! — Die
Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge
Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte
noch acht Tag’ jammern. Sie hatte keinen
Schmerz; allein ſie jammerte — mein Mann
todt, meine Tochter todt — und ich! ich! hab’
ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange
bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech!
Der Tod ihrer Tochter hatt’ ihr vollends das
Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach-
ten Tag, daß die Leich’ ihrer Tochter auf ſie
wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte
die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf
einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag,
ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag
waren auch ihre lezten Worte. Sie ſtarb!
o Gott — faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz
nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter!
Die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/622>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.