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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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ihr alles. -- Sie knieten beyde, Mutter und
Tochter, dicht zusammen, und hielten die Hän-
de gen Himmel, als wär' es nur eine. -- Sehn-
lichst beteten sie um den Tod, und das ist eine
große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht
erst wem giebt, sondern nur denen er gut ist.
Wir sterben zwar alle; allein es kommt beym
Tod aufs wenn? an, auf eine erwünschte,
das ist, auf eine selige Stunde. Da nimmt
man nicht zehn Leben um Einen Tod! -- Die
Tochter starb so ruhig, daß man ihr die ewge
Seligkeit ansehen konnte. Die Mutter muste
noch acht Tag' jammern. Sie hatte keinen
Schmerz; allein sie jammerte -- mein Mann
todt, meine Tochter todt -- und ich! ich! hab'
ein heimtückisches hartes Leben! Schon lange
bey Lebenszeit ihres Mannes war sie siech!
Der Tod ihrer Tochter hatt' ihr vollends das
Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach-
ten Tag, daß die Leich' ihrer Tochter auf sie
wartete, unbegraben! Auf einen Tag, sagte
die Mutter zu ihrer sterbenden Tochter, auf
einen Tag, sagte die Tochter. Auf einen Tag,
sagten sie sich hundertmal, und auf einen Tag
waren auch ihre lezten Worte. Sie starb!
o Gott -- fast wie ihre Tochter. Fast! Ganz
nicht, denn die Tochter starb noch leichter!

Die

ihr alles. — Sie knieten beyde, Mutter und
Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn-
de gen Himmel, als waͤr’ es nur eine. — Sehn-
lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine
große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht
erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt.
Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym
Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte,
das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt
man nicht zehn Leben um Einen Tod! — Die
Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge
Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte
noch acht Tag’ jammern. Sie hatte keinen
Schmerz; allein ſie jammerte — mein Mann
todt, meine Tochter todt — und ich! ich! hab’
ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange
bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech!
Der Tod ihrer Tochter hatt’ ihr vollends das
Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach-
ten Tag, daß die Leich’ ihrer Tochter auf ſie
wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte
die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf
einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag,
ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag
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o Gott — faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz
nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter!

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[610/0622] ihr alles. — Sie knieten beyde, Mutter und Tochter, dicht zuſammen, und hielten die Haͤn- de gen Himmel, als waͤr’ es nur eine. — Sehn- lichſt beteten ſie um den Tod, und das iſt eine große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht erſt wem giebt, ſondern nur denen er gut iſt. Wir ſterben zwar alle; allein es kommt beym Tod aufs wenn? an, auf eine erwuͤnſchte, das iſt, auf eine ſelige Stunde. Da nimmt man nicht zehn Leben um Einen Tod! — Die Tochter ſtarb ſo ruhig, daß man ihr die ewge Seligkeit anſehen konnte. Die Mutter muſte noch acht Tag’ jammern. Sie hatte keinen Schmerz; allein ſie jammerte — mein Mann todt, meine Tochter todt — und ich! ich! hab’ ein heimtuͤckiſches hartes Leben! Schon lange bey Lebenszeit ihres Mannes war ſie ſiech! Der Tod ihrer Tochter hatt’ ihr vollends das Herz gebrochen. Nun gieng es gegen den ach- ten Tag, daß die Leich’ ihrer Tochter auf ſie wartete, unbegraben! Auf einen Tag, ſagte die Mutter zu ihrer ſterbenden Tochter, auf einen Tag, ſagte die Tochter. Auf einen Tag, ſagten ſie ſich hundertmal, und auf einen Tag waren auch ihre lezten Worte. Sie ſtarb! o Gott — faſt wie ihre Tochter. Faſt! Ganz nicht, denn die Tochter ſtarb noch leichter! Die

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/622>, abgerufen am 24.11.2024.