Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Mine hatte sich mit Gretchen am meisten
unterhalten und Gedanken mit ihr gewechselt.
Gretchen nahm Stunden bey Minen. Ich weiß
nicht, ob ich meinen Lesern einen Gefallen er-
weise, wenn ich Ihnen etwas aus einem Auf-
satz ausziehe, den Gretchen, wie sie sagte, Mi-
nen nachgeschrieben. Nur etwas --

Ich hab mich sehr mit mir selbst gestrit-
ten, ob ich das Leben verliere. Allein in
Wahrheit ich verliere nichts, nichts, wenn
ich auch einen Strich zwischen dieser und
jener Welt ziehe. Denn hatt' ich dies Le-
ben? Höchstens hätt' ich es haben können.
Hatt' ich Alexandern den Pastor? War ich
Frau Alexander, die Pastorinn? Ich hab
nur Hofnung, nicht Leben eingebüßt --
und (wenn ich den Strich wiederlösche,)
diese Hofnung mit jener Hofnung abge-
wogen: Sterben ist mein Gewinn, und
schadet mir nicht
. --

Wie wahr in jedem Munde, und wie rüh-
rend wahr in einem sterbenden! -- Wer neun-
zig Jahr gelebt hat, ist im siebenten gestorben,
und hat sich hin und zurückgelebt. Wer sich
nicht mit Leben überhäuft und zuviel auf ein-
mal gelebt hat, ist im sechszigsten Jahre stark,
wie ein Jüngling, und kann selbst noch Vater
werden, wie es oft geschehen ist. Im

sieben-
M m 2

Mine hatte ſich mit Gretchen am meiſten
unterhalten und Gedanken mit ihr gewechſelt.
Gretchen nahm Stunden bey Minen. Ich weiß
nicht, ob ich meinen Leſern einen Gefallen er-
weiſe, wenn ich Ihnen etwas aus einem Auf-
ſatz ausziehe, den Gretchen, wie ſie ſagte, Mi-
nen nachgeſchrieben. Nur etwas —

Ich hab mich ſehr mit mir ſelbſt geſtrit-
ten, ob ich das Leben verliere. Allein in
Wahrheit ich verliere nichts, nichts, wenn
ich auch einen Strich zwiſchen dieſer und
jener Welt ziehe. Denn hatt’ ich dies Le-
ben? Hoͤchſtens haͤtt’ ich es haben koͤnnen.
Hatt’ ich Alexandern den Paſtor? War ich
Frau Alexander, die Paſtorinn? Ich hab
nur Hofnung, nicht Leben eingebuͤßt —
und (wenn ich den Strich wiederloͤſche,)
dieſe Hofnung mit jener Hofnung abge-
wogen: Sterben iſt mein Gewinn, und
ſchadet mir nicht
. —

Wie wahr in jedem Munde, und wie ruͤh-
rend wahr in einem ſterbenden! — Wer neun-
zig Jahr gelebt hat, iſt im ſiebenten geſtorben,
und hat ſich hin und zuruͤckgelebt. Wer ſich
nicht mit Leben uͤberhaͤuft und zuviel auf ein-
mal gelebt hat, iſt im ſechszigſten Jahre ſtark,
wie ein Juͤngling, und kann ſelbſt noch Vater
werden, wie es oft geſchehen iſt. Im

ſieben-
M m 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0559" n="547"/>
          <p>Mine hatte &#x017F;ich mit Gretchen am mei&#x017F;ten<lb/>
unterhalten und Gedanken mit ihr gewech&#x017F;elt.<lb/>
Gretchen nahm Stunden bey Minen. Ich weiß<lb/>
nicht, ob ich meinen Le&#x017F;ern einen Gefallen er-<lb/>
wei&#x017F;e, wenn ich Ihnen etwas aus einem Auf-<lb/>
&#x017F;atz ausziehe, den Gretchen, wie &#x017F;ie &#x017F;agte, Mi-<lb/>
nen nachge&#x017F;chrieben. Nur etwas &#x2014;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Ich hab mich &#x017F;ehr mit mir &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;trit-<lb/>
ten, ob ich das Leben verliere. Allein in<lb/>
Wahrheit ich verliere nichts, nichts, wenn<lb/>
ich auch einen Strich zwi&#x017F;chen die&#x017F;er und<lb/>
jener Welt ziehe. Denn hatt&#x2019; ich dies Le-<lb/>
ben? Ho&#x0364;ch&#x017F;tens ha&#x0364;tt&#x2019; ich es haben ko&#x0364;nnen.<lb/>
Hatt&#x2019; ich <choice><sic>Alerandern</sic><corr>Alexandern</corr></choice> den Pa&#x017F;tor? War ich<lb/>
Frau Alexander, die Pa&#x017F;torinn? Ich hab<lb/>
nur Hofnung, nicht Leben eingebu&#x0364;ßt &#x2014;<lb/>
und (wenn ich den Strich wiederlo&#x0364;&#x017F;che,)<lb/>
die&#x017F;e Hofnung mit jener Hofnung abge-<lb/>
wogen: Sterben i&#x017F;t mein Gewinn, und<lb/>
&#x017F;chadet mir nicht</hi>. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Wie wahr in jedem Munde, und wie ru&#x0364;h-<lb/>
rend wahr in einem &#x017F;terbenden! &#x2014; Wer neun-<lb/>
zig Jahr gelebt hat, i&#x017F;t im &#x017F;iebenten ge&#x017F;torben,<lb/>
und hat &#x017F;ich hin und zuru&#x0364;ckgelebt. Wer &#x017F;ich<lb/>
nicht mit Leben u&#x0364;berha&#x0364;uft und zuviel auf ein-<lb/>
mal gelebt hat, i&#x017F;t im &#x017F;echszig&#x017F;ten Jahre &#x017F;tark,<lb/>
wie ein Ju&#x0364;ngling, und kann &#x017F;elb&#x017F;t noch Vater<lb/>
werden, wie es oft ge&#x017F;chehen i&#x017F;t. Im<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M m 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ieben-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[547/0559] Mine hatte ſich mit Gretchen am meiſten unterhalten und Gedanken mit ihr gewechſelt. Gretchen nahm Stunden bey Minen. Ich weiß nicht, ob ich meinen Leſern einen Gefallen er- weiſe, wenn ich Ihnen etwas aus einem Auf- ſatz ausziehe, den Gretchen, wie ſie ſagte, Mi- nen nachgeſchrieben. Nur etwas — Ich hab mich ſehr mit mir ſelbſt geſtrit- ten, ob ich das Leben verliere. Allein in Wahrheit ich verliere nichts, nichts, wenn ich auch einen Strich zwiſchen dieſer und jener Welt ziehe. Denn hatt’ ich dies Le- ben? Hoͤchſtens haͤtt’ ich es haben koͤnnen. Hatt’ ich Alexandern den Paſtor? War ich Frau Alexander, die Paſtorinn? Ich hab nur Hofnung, nicht Leben eingebuͤßt — und (wenn ich den Strich wiederloͤſche,) dieſe Hofnung mit jener Hofnung abge- wogen: Sterben iſt mein Gewinn, und ſchadet mir nicht. — Wie wahr in jedem Munde, und wie ruͤh- rend wahr in einem ſterbenden! — Wer neun- zig Jahr gelebt hat, iſt im ſiebenten geſtorben, und hat ſich hin und zuruͤckgelebt. Wer ſich nicht mit Leben uͤberhaͤuft und zuviel auf ein- mal gelebt hat, iſt im ſechszigſten Jahre ſtark, wie ein Juͤngling, und kann ſelbſt noch Vater werden, wie es oft geſchehen iſt. Im ſieben- M m 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/559
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/559>, abgerufen am 22.11.2024.