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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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Ich war blind und taub! Wie konnt' es
anders! Schon sechs Wochen über das Vier-
teljahr, und kein Brief von Minen!

Mine reiste den andern Tag nach L -- zu
ihren Verwandten. -- Wie sie zum Thor
heraus fuhr, fielen ihr wieder die Wort' ein:
Man trug einen Todten aus der Stadt,
der war der einzige Sohn seiner Mutter.

Sie konnte diese Worte nicht los werden. --

Mine schreibt: "mein Weg, mein Lieber,
"wie du schon weißt, wie ich dir schon tau-
"sendmal geschrieben habe, gieng Himmel an,
"überall Himmel an. --"

Sie fand ihren Verwandten auf dem
Brete. Seine Frau war schon längst gestor-
ben. Müd' und matt fiel Mine, bey dem An-
blick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nach-
dem sie sich erholt hatte und den Todten an-
sah, fand sie eine Aehnlichkeit von ihrer Mut-
ter in allen seinen Zügen. Sie konnt' ihr
Aug nicht von ihm lassen. Sie selbst:

"Es sey, mein Lieber, daß alle Todten
"eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn ster-
"ben, oder der Selige hatte, der Verwand-
"schaft wegen, würklich ähnliche Züge von
"meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug!
"-- Lieber Gott, dacht' ich, indem ich ihn

"starr
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Ich war blind und taub! Wie konnt’ es
anders! Schon ſechs Wochen uͤber das Vier-
teljahr, und kein Brief von Minen!

Mine reiſte den andern Tag nach L — zu
ihren Verwandten. — Wie ſie zum Thor
heraus fuhr, fielen ihr wieder die Wort’ ein:
Man trug einen Todten aus der Stadt,
der war der einzige Sohn ſeiner Mutter.

Sie konnte dieſe Worte nicht los werden. —

Mine ſchreibt: „mein Weg, mein Lieber,
„wie du ſchon weißt, wie ich dir ſchon tau-
„ſendmal geſchrieben habe, gieng Himmel an,
„uͤberall Himmel an. —”

Sie fand ihren Verwandten auf dem
Brete. Seine Frau war ſchon laͤngſt geſtor-
ben. Muͤd’ und matt fiel Mine, bey dem An-
blick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nach-
dem ſie ſich erholt hatte und den Todten an-
ſah, fand ſie eine Aehnlichkeit von ihrer Mut-
ter in allen ſeinen Zuͤgen. Sie konnt’ ihr
Aug nicht von ihm laſſen. Sie ſelbſt:

„Es ſey, mein Lieber, daß alle Todten
„eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn ſter-
„ben, oder der Selige hatte, der Verwand-
„ſchaft wegen, wuͤrklich aͤhnliche Zuͤge von
„meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug!
„— Lieber Gott, dacht’ ich, indem ich ihn

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[407/0417] Ich war blind und taub! Wie konnt’ es anders! Schon ſechs Wochen uͤber das Vier- teljahr, und kein Brief von Minen! Mine reiſte den andern Tag nach L — zu ihren Verwandten. — Wie ſie zum Thor heraus fuhr, fielen ihr wieder die Wort’ ein: Man trug einen Todten aus der Stadt, der war der einzige Sohn ſeiner Mutter. Sie konnte dieſe Worte nicht los werden. — Mine ſchreibt: „mein Weg, mein Lieber, „wie du ſchon weißt, wie ich dir ſchon tau- „ſendmal geſchrieben habe, gieng Himmel an, „uͤberall Himmel an. —” Sie fand ihren Verwandten auf dem Brete. Seine Frau war ſchon laͤngſt geſtor- ben. Muͤd’ und matt fiel Mine, bey dem An- blick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nach- dem ſie ſich erholt hatte und den Todten an- ſah, fand ſie eine Aehnlichkeit von ihrer Mut- ter in allen ſeinen Zuͤgen. Sie konnt’ ihr Aug nicht von ihm laſſen. Sie ſelbſt: „Es ſey, mein Lieber, daß alle Todten „eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn ſter- „ben, oder der Selige hatte, der Verwand- „ſchaft wegen, wuͤrklich aͤhnliche Zuͤge von „meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug! „— Lieber Gott, dacht’ ich, indem ich ihn „ſtarr C c 4

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/417>, abgerufen am 22.11.2024.