Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

schon weg -- Du kommst zwar wieder, al-
lein meine Mutter nicht mehr. Du weißt,
wie ich sie geliebt habe, und wie sehr ich Ur-
sach dazu gehabt. Wenn wir zu einem Brief-
träger einen Vertrauten nöthig gehabt, wäre
Sie es gewesen. Du hast mirs gesagt und
geschrieben. Ein Mädchen kann zur Ver-
trauten in der Liebe Niemand anders als eine
Mutter nehmen -- höchstens einen Bruder.
Wie wirds jetzo werden, da du dem Benjamin
unsre Liebe nicht entdecken wilst -- du schreibst,
ein guter, sehr guter Junge, nur er ist das
in die Flucht schlagen gewohnt. Wer Ge-
heimnisse bewahren will, muß das Siegen ge-
wohnt seyn. Wir arme Leutchen, jetzt schrei-
ben wir einander und tragen die Briefe selbst
an Ort und Stelle. Wenn du aber nicht
mehr dreyßig Schritte für Männer, und sech-
zig Schritte für Weiber, und fünfundvierzig
Schritte, wenn wir beide zusammen gehen,
von mir entfernt seyn wirst, wie werd ich dir
meine Briefe im Buch reichen oder in die
Hand drücken, oder auf diese oder jene Stäte
legen, welche der liebe Gott blos unserer
Briefe wegen so dick mit Gras bewachsen
lies, um unser Geheimnis zu decken. O
Gott! wenn ich an deine Abreise dencke, ists

mir
Q 4

ſchon weg — Du kommſt zwar wieder, al-
lein meine Mutter nicht mehr. Du weißt,
wie ich ſie geliebt habe, und wie ſehr ich Ur-
ſach dazu gehabt. Wenn wir zu einem Brief-
traͤger einen Vertrauten noͤthig gehabt, waͤre
Sie es geweſen. Du haſt mirs geſagt und
geſchrieben. Ein Maͤdchen kann zur Ver-
trauten in der Liebe Niemand anders als eine
Mutter nehmen — hoͤchſtens einen Bruder.
Wie wirds jetzo werden, da du dem Benjamin
unſre Liebe nicht entdecken wilſt — du ſchreibſt,
ein guter, ſehr guter Junge, nur er iſt das
in die Flucht ſchlagen gewohnt. Wer Ge-
heimniſſe bewahren will, muß das Siegen ge-
wohnt ſeyn. Wir arme Leutchen, jetzt ſchrei-
ben wir einander und tragen die Briefe ſelbſt
an Ort und Stelle. Wenn du aber nicht
mehr dreyßig Schritte fuͤr Maͤnner, und ſech-
zig Schritte fuͤr Weiber, und fuͤnfundvierzig
Schritte, wenn wir beide zuſammen gehen,
von mir entfernt ſeyn wirſt, wie werd ich dir
meine Briefe im Buch reichen oder in die
Hand druͤcken, oder auf dieſe oder jene Staͤte
legen, welche der liebe Gott blos unſerer
Briefe wegen ſo dick mit Gras bewachſen
lies, um unſer Geheimnis zu decken. O
Gott! wenn ich an deine Abreiſe dencke, iſts

mir
Q 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0257" n="245"/>
&#x017F;chon weg &#x2014; Du komm&#x017F;t zwar wieder, al-<lb/>
lein meine Mutter nicht mehr. Du weißt,<lb/>
wie ich &#x017F;ie geliebt habe, und wie &#x017F;ehr ich Ur-<lb/>
&#x017F;ach dazu gehabt. Wenn wir zu einem Brief-<lb/>
tra&#x0364;ger einen Vertrauten no&#x0364;thig gehabt, wa&#x0364;re<lb/>
Sie es gewe&#x017F;en. Du ha&#x017F;t mirs ge&#x017F;agt und<lb/>
ge&#x017F;chrieben. Ein Ma&#x0364;dchen kann zur Ver-<lb/>
trauten in der Liebe Niemand anders als eine<lb/>
Mutter nehmen &#x2014; ho&#x0364;ch&#x017F;tens einen Bruder.<lb/>
Wie wirds jetzo werden, da du dem Benjamin<lb/>
un&#x017F;re Liebe nicht entdecken wil&#x017F;t &#x2014; du &#x017F;chreib&#x017F;t,<lb/>
ein guter, &#x017F;ehr guter Junge, nur er i&#x017F;t das<lb/>
in die Flucht &#x017F;chlagen gewohnt. Wer Ge-<lb/>
heimni&#x017F;&#x017F;e bewahren will, muß das Siegen ge-<lb/>
wohnt &#x017F;eyn. Wir arme Leutchen, jetzt &#x017F;chrei-<lb/>
ben wir einander und tragen die Briefe &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
an Ort und Stelle. Wenn du aber nicht<lb/>
mehr dreyßig Schritte fu&#x0364;r Ma&#x0364;nner, und &#x017F;ech-<lb/>
zig Schritte fu&#x0364;r Weiber, und fu&#x0364;nfundvierzig<lb/>
Schritte, wenn wir beide zu&#x017F;ammen gehen,<lb/>
von mir entfernt &#x017F;eyn wir&#x017F;t, wie werd ich dir<lb/>
meine Briefe im Buch reichen oder in die<lb/>
Hand dru&#x0364;cken, oder auf die&#x017F;e oder jene Sta&#x0364;te<lb/>
legen, welche der liebe Gott blos un&#x017F;erer<lb/>
Briefe wegen &#x017F;o dick mit Gras bewach&#x017F;en<lb/>
lies, um un&#x017F;er Geheimnis zu decken. O<lb/>
Gott! wenn ich an deine Abrei&#x017F;e dencke, i&#x017F;ts<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Q 4</fw><fw place="bottom" type="catch">mir</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[245/0257] ſchon weg — Du kommſt zwar wieder, al- lein meine Mutter nicht mehr. Du weißt, wie ich ſie geliebt habe, und wie ſehr ich Ur- ſach dazu gehabt. Wenn wir zu einem Brief- traͤger einen Vertrauten noͤthig gehabt, waͤre Sie es geweſen. Du haſt mirs geſagt und geſchrieben. Ein Maͤdchen kann zur Ver- trauten in der Liebe Niemand anders als eine Mutter nehmen — hoͤchſtens einen Bruder. Wie wirds jetzo werden, da du dem Benjamin unſre Liebe nicht entdecken wilſt — du ſchreibſt, ein guter, ſehr guter Junge, nur er iſt das in die Flucht ſchlagen gewohnt. Wer Ge- heimniſſe bewahren will, muß das Siegen ge- wohnt ſeyn. Wir arme Leutchen, jetzt ſchrei- ben wir einander und tragen die Briefe ſelbſt an Ort und Stelle. Wenn du aber nicht mehr dreyßig Schritte fuͤr Maͤnner, und ſech- zig Schritte fuͤr Weiber, und fuͤnfundvierzig Schritte, wenn wir beide zuſammen gehen, von mir entfernt ſeyn wirſt, wie werd ich dir meine Briefe im Buch reichen oder in die Hand druͤcken, oder auf dieſe oder jene Staͤte legen, welche der liebe Gott blos unſerer Briefe wegen ſo dick mit Gras bewachſen lies, um unſer Geheimnis zu decken. O Gott! wenn ich an deine Abreiſe dencke, iſts mir Q 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778/257
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778/257>, abgerufen am 23.11.2024.