Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.bedeutendsten novellistischen Erzeugnisse sich unabgeschlossen verlieren. So bleibt ihm denn vorwiegend das Verdienst, für die Deutschen auch in dieser kleineren Dichtungsform zuerst den rechten Ton angeschlagen zu haben. Aber - trotz der glänzenden Nachfolge Heinrich's von Kleist - erst seit 1822, in welchem Jahr Tieck mit seiner ersten Novelle hervortrat, datirt der Aufschwung dieser Gattung bei uns. Die große Wirkung, welche Tieck's Novellen auf ihre Mitwelt ausgeübt haben, ist der heutigen Nachwelt kaum noch begreiflich; so viel man aber auch mit allem Recht an ihnen aussetzen mag: zu ihrer Zeit waren sie eine That; ein entschiedener Bruch mit der falschen Kunst, zwei für sich gleichberechtigte Erzählungsgebiete, das Wunderbare und das Natürliche, das Märchen und die Wirklichkeit zu beiderseitigem Schaden mit einander zu vermengen. Goethe's recht ausdrücklich mit "Novelle" überschriebene phantastisch-mystische Erzählung von dem Knaben, der den Löwen mit Gesang bezähmt, schien diesen Mißbrauch zu rechtfertigen, und Tieck selbst hatte ihm, besonders in einigen Erzählungen seines Phantasus, nur allzu sehr gehuldigt. Jetzt führte er die Novelle aus der Zaubernacht und Dämmerung der Romantik in das helle Tageslicht heraus. Er selbst hat Boccaz, Cervantes und Goethe als seine Muster und Vorbilder in dieser Gattung bedeutendsten novellistischen Erzeugnisse sich unabgeschlossen verlieren. So bleibt ihm denn vorwiegend das Verdienst, für die Deutschen auch in dieser kleineren Dichtungsform zuerst den rechten Ton angeschlagen zu haben. Aber – trotz der glänzenden Nachfolge Heinrich's von Kleist – erst seit 1822, in welchem Jahr Tieck mit seiner ersten Novelle hervortrat, datirt der Aufschwung dieser Gattung bei uns. Die große Wirkung, welche Tieck’s Novellen auf ihre Mitwelt ausgeübt haben, ist der heutigen Nachwelt kaum noch begreiflich; so viel man aber auch mit allem Recht an ihnen aussetzen mag: zu ihrer Zeit waren sie eine That; ein entschiedener Bruch mit der falschen Kunst, zwei für sich gleichberechtigte Erzählungsgebiete, das Wunderbare und das Natürliche, das Märchen und die Wirklichkeit zu beiderseitigem Schaden mit einander zu vermengen. Goethe's recht ausdrücklich mit „Novelle“ überschriebene phantastisch-mystische Erzählung von dem Knaben, der den Löwen mit Gesang bezähmt, schien diesen Mißbrauch zu rechtfertigen, und Tieck selbst hatte ihm, besonders in einigen Erzählungen seines Phantasus, nur allzu sehr gehuldigt. Jetzt führte er die Novelle aus der Zaubernacht und Dämmerung der Romantik in das helle Tageslicht heraus. Er selbst hat Boccaz, Cervantes und Goethe als seine Muster und Vorbilder in dieser Gattung <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0008" n="VIII"/> bedeutendsten novellistischen Erzeugnisse sich unabgeschlossen verlieren. So bleibt ihm denn vorwiegend das Verdienst, für die Deutschen auch in dieser kleineren Dichtungsform zuerst den rechten Ton angeschlagen zu haben.</p> <p>Aber – trotz der glänzenden Nachfolge <hi rendition="#g">Heinrich's von Kleist</hi> – erst seit 1822, in welchem Jahr <hi rendition="#g">Tieck</hi> mit seiner ersten Novelle hervortrat, datirt der Aufschwung dieser Gattung bei uns. Die große Wirkung, welche Tieck’s Novellen auf ihre Mitwelt ausgeübt haben, ist der heutigen Nachwelt kaum noch begreiflich; so viel man aber auch mit allem Recht an ihnen aussetzen mag: zu ihrer Zeit waren sie eine That; ein entschiedener Bruch mit der falschen Kunst, zwei für sich gleichberechtigte Erzählungsgebiete, das Wunderbare und das Natürliche, das Märchen und die Wirklichkeit zu beiderseitigem Schaden mit einander zu vermengen. Goethe's recht ausdrücklich mit „Novelle“ überschriebene phantastisch-mystische Erzählung von dem Knaben, der den Löwen mit Gesang bezähmt, schien diesen Mißbrauch zu rechtfertigen, und Tieck selbst hatte ihm, besonders in einigen Erzählungen seines Phantasus, nur allzu sehr gehuldigt. Jetzt führte er die Novelle aus der Zaubernacht und Dämmerung der Romantik in das helle Tageslicht heraus.</p> <p>Er selbst hat Boccaz, Cervantes und Goethe als seine Muster und Vorbilder in dieser Gattung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [VIII/0008]
bedeutendsten novellistischen Erzeugnisse sich unabgeschlossen verlieren. So bleibt ihm denn vorwiegend das Verdienst, für die Deutschen auch in dieser kleineren Dichtungsform zuerst den rechten Ton angeschlagen zu haben.
Aber – trotz der glänzenden Nachfolge Heinrich's von Kleist – erst seit 1822, in welchem Jahr Tieck mit seiner ersten Novelle hervortrat, datirt der Aufschwung dieser Gattung bei uns. Die große Wirkung, welche Tieck’s Novellen auf ihre Mitwelt ausgeübt haben, ist der heutigen Nachwelt kaum noch begreiflich; so viel man aber auch mit allem Recht an ihnen aussetzen mag: zu ihrer Zeit waren sie eine That; ein entschiedener Bruch mit der falschen Kunst, zwei für sich gleichberechtigte Erzählungsgebiete, das Wunderbare und das Natürliche, das Märchen und die Wirklichkeit zu beiderseitigem Schaden mit einander zu vermengen. Goethe's recht ausdrücklich mit „Novelle“ überschriebene phantastisch-mystische Erzählung von dem Knaben, der den Löwen mit Gesang bezähmt, schien diesen Mißbrauch zu rechtfertigen, und Tieck selbst hatte ihm, besonders in einigen Erzählungen seines Phantasus, nur allzu sehr gehuldigt. Jetzt führte er die Novelle aus der Zaubernacht und Dämmerung der Romantik in das helle Tageslicht heraus.
Er selbst hat Boccaz, Cervantes und Goethe als seine Muster und Vorbilder in dieser Gattung
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/8 |
Zitationshilfe: | Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/8>, abgerufen am 02.03.2025. |