Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein concentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Conflict, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereigniß, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit -- der Jsolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen -- nur einen relativen Werth behalten , während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten. Freilich wird es auch hier an Uebergangsformen nicht fehlen. Hat doch unser größter Erzähler in seinen "Wahlverwandtschaften" ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich auswachsen lassen, indem er das bedeutende Problem mitten in ein reich gegliedertes sociales Leben hineinsetzte, obwohl vier Menschen auf einer wüsten Insel eben so gut in die Lage kommen konnten, die Gewalt dieses Naturgesetzes an sich zu erfahren. entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein concentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Conflict, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereigniß, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit — der Jsolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen — nur einen relativen Werth behalten , während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten. Freilich wird es auch hier an Uebergangsformen nicht fehlen. Hat doch unser größter Erzähler in seinen „Wahlverwandtschaften“ ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich auswachsen lassen, indem er das bedeutende Problem mitten in ein reich gegliedertes sociales Leben hineinsetzte, obwohl vier Menschen auf einer wüsten Insel eben so gut in die Lage kommen konnten, die Gewalt dieses Naturgesetzes an sich zu erfahren. <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0018" n="XVIII"/> entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein concentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem <hi rendition="#g">einzigen</hi> Kreise einen <hi rendition="#g">einzelnen</hi> Conflict, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die <hi rendition="#g">Geschichte</hi>, nicht die Zustände, das <hi rendition="#g">Ereigniß</hi>, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit — der Jsolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen — nur einen relativen Werth behalten , während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten. Freilich wird es auch hier an Uebergangsformen nicht fehlen. Hat doch unser größter Erzähler in seinen „Wahlverwandtschaften“ ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich auswachsen lassen, indem er das bedeutende Problem mitten in ein reich gegliedertes sociales Leben hineinsetzte, obwohl vier Menschen auf einer wüsten Insel eben so gut in die Lage kommen konnten, die Gewalt dieses Naturgesetzes an sich zu erfahren.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [XVIII/0018]
entfaltet, bei dem es auf ein gruppenweises Ineinandergreifen oder ein concentrisches Sichumschlingen verschiedener Lebenskreise recht eigentlich abgesehen ist, so hat die Novelle in einem einzigen Kreise einen einzelnen Conflict, eine sittliche oder Schicksals-Idee oder ein entschieden abgegrenztes Charakterbild darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem großen Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen. Die Geschichte, nicht die Zustände, das Ereigniß, nicht die sich in ihm spiegelnde Weltanschauung, sind hier die Hauptsache; denn selbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit — der Jsolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen — nur einen relativen Werth behalten , während es in der Breite des Romans möglich wird, eine Lebens- oder Gewissensfrage der Menschheit erschöpfend von allen Seiten zu beleuchten. Freilich wird es auch hier an Uebergangsformen nicht fehlen. Hat doch unser größter Erzähler in seinen „Wahlverwandtschaften“ ein echt novellistisches Thema mit vollem Recht zum Roman sich auswachsen lassen, indem er das bedeutende Problem mitten in ein reich gegliedertes sociales Leben hineinsetzte, obwohl vier Menschen auf einer wüsten Insel eben so gut in die Lage kommen konnten, die Gewalt dieses Naturgesetzes an sich zu erfahren.
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/18>, abgerufen am 02.03.2025. |