Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

in ihrer Jugend besaß. Jeder Zeitgeschmack ist einer Macht, die zwar nicht vor Recht geht, der aber ein doctrinärer Eigensinn sich nicht in den Weg stellen darf. So wenig wir von Robert Schumann's durchgeistigt subjectiver Form und dem problematisch leidenschaftlichen Charakter seiner Kunst zu der durchsichtigen Objectivität Vater Heyden's zurückkönnen, weil die Stimmungen und Strömungen unseres heutigen Lebens über den Rand dieser krystall-klaren Formen hinausschwellen, eben so wenig wird es uns einfallen dürfen, mit archaistischer Willkür die Novelle zu freiwilliger Armuth, zur Beschränkung an Stoffen und Darstellungsmitteln zu verpflichten. Nil humani a me alienum puto - Alles, was eine Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis - dieser Loosung wird die Novelle mit vollster Unumschränktheit treu bleiben müssen. Haben doch auch gerade in der neueren Zeit bedeutende Talente im verschiedensten Sinne mit diesem Wahlspruch Ernst gemacht. Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmsfall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich

in ihrer Jugend besaß. Jeder Zeitgeschmack ist einer Macht, die zwar nicht vor Recht geht, der aber ein doctrinärer Eigensinn sich nicht in den Weg stellen darf. So wenig wir von Robert Schumann's durchgeistigt subjectiver Form und dem problematisch leidenschaftlichen Charakter seiner Kunst zu der durchsichtigen Objectivität Vater Heyden's zurückkönnen, weil die Stimmungen und Strömungen unseres heutigen Lebens über den Rand dieser krystall-klaren Formen hinausschwellen, eben so wenig wird es uns einfallen dürfen, mit archaistischer Willkür die Novelle zu freiwilliger Armuth, zur Beschränkung an Stoffen und Darstellungsmitteln zu verpflichten. Nil humani a me alienum puto – Alles, was eine Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis – dieser Loosung wird die Novelle mit vollster Unumschränktheit treu bleiben müssen. Haben doch auch gerade in der neueren Zeit bedeutende Talente im verschiedensten Sinne mit diesem Wahlspruch Ernst gemacht. Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmsfall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0014" n="XIV"/>
in ihrer Jugend                besaß. Jeder Zeitgeschmack ist einer Macht, die zwar nicht vor Recht geht, der aber                ein doctrinärer Eigensinn sich nicht in den Weg stellen darf. So wenig wir von Robert                Schumann's durchgeistigt subjectiver Form und dem problematisch leidenschaftlichen                Charakter seiner Kunst zu der durchsichtigen Objectivität Vater Heyden's                zurückkönnen, weil die Stimmungen und Strömungen unseres heutigen Lebens über den                Rand dieser krystall-klaren Formen hinausschwellen, eben so wenig wird es uns                einfallen dürfen, mit archaistischer Willkür die Novelle zu freiwilliger Armuth, zur                Beschränkung an Stoffen und Darstellungsmitteln zu verpflichten. <hi rendition="#aq">Nil humani a me                alienum puto</hi> &#x2013; Alles, was eine Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis &#x2013; dieser                Loosung wird die Novelle mit vollster Unumschränktheit treu bleiben müssen. Haben                doch auch gerade in der neueren Zeit bedeutende Talente im verschiedensten Sinne mit                diesem Wahlspruch Ernst gemacht. Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen                Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die                Novelle nach und nach zu der Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und                wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen                dichterischen Gattung auch der Ausnahmsfall, das höchst individuelle und                allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die                sich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XIV/0014] in ihrer Jugend besaß. Jeder Zeitgeschmack ist einer Macht, die zwar nicht vor Recht geht, der aber ein doctrinärer Eigensinn sich nicht in den Weg stellen darf. So wenig wir von Robert Schumann's durchgeistigt subjectiver Form und dem problematisch leidenschaftlichen Charakter seiner Kunst zu der durchsichtigen Objectivität Vater Heyden's zurückkönnen, weil die Stimmungen und Strömungen unseres heutigen Lebens über den Rand dieser krystall-klaren Formen hinausschwellen, eben so wenig wird es uns einfallen dürfen, mit archaistischer Willkür die Novelle zu freiwilliger Armuth, zur Beschränkung an Stoffen und Darstellungsmitteln zu verpflichten. Nil humani a me alienum puto – Alles, was eine Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis – dieser Loosung wird die Novelle mit vollster Unumschränktheit treu bleiben müssen. Haben doch auch gerade in der neueren Zeit bedeutende Talente im verschiedensten Sinne mit diesem Wahlspruch Ernst gemacht. Von dem einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses oder einer sinnreich erfundenen abenteuerlichen Geschichte hat sich die Novelle nach und nach zu der Form entwickelt, in welcher gerade die tiefsten und wichtigsten sittlichen Fragen zur Sprache kommen, weil in dieser bescheidenen dichterischen Gattung auch der Ausnahmsfall, das höchst individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet. Fälle, die sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/14
Zitationshilfe: Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/14>, abgerufen am 18.12.2024.