Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.aber war, nach der Landessitte, von den Haaren verhängt, die früh schon dicht über den Augenbrauen abgeschnitten sich in einzelne Locken gewöhnt hatten und um Schläfe und Nacken ebenfalls gelockt herabhingen. Das gab dem Kopfe alle Jugendfrische zurück, die ihm die Schatten unter den dunkeln Augen zu nehmen drohten. Ein langsamer Schritt, der sich unten auf dem Fußsteige näherte, machte, daß er plötzlich aufstarrte, den Hut aufsetzte und die Hellebarde ergriff. Man konnte jetzt sehen, daß sein Wuchs hinter dem landüblichen etwas zurückgeblieben war, immer noch stattlich genug und durch das schönste Ebenmaß der gewölbten Brust und der straffen Schenkel auffallend auf den ersten Blick. Nur der Kopf schien fast zu klein gerathen und Hände und Füße gar mit einem Weibe ausgetauscht. Geräuschlos glitt die schmiegsame Gestalt unter den Gewölbgittern entlang, ohne auch nur eine Traube zu streifen, und spähte vom nächsten Felsenvorsprung hinunter auf den Weg. Eine schmale, schwarzröckige Figur mit hohem, sehr abgetragenem Filzhut kam die breite Gasse zwischen Weinberg und Wiese dahergewändelt, im Schatten der Weidenbäume, ein offnes Buch in den gefalteten Händen, über das hinaus der Blick zufrieden und unbegehrlich nach den schönen Trauben schweifte. Auch ohne den langen Rock, der fast zu den Knöcheln der schwarzen Strümpfe herabreichte, hätte Jeder in dem bedäch- aber war, nach der Landessitte, von den Haaren verhängt, die früh schon dicht über den Augenbrauen abgeschnitten sich in einzelne Locken gewöhnt hatten und um Schläfe und Nacken ebenfalls gelockt herabhingen. Das gab dem Kopfe alle Jugendfrische zurück, die ihm die Schatten unter den dunkeln Augen zu nehmen drohten. Ein langsamer Schritt, der sich unten auf dem Fußsteige näherte, machte, daß er plötzlich aufstarrte, den Hut aufsetzte und die Hellebarde ergriff. Man konnte jetzt sehen, daß sein Wuchs hinter dem landüblichen etwas zurückgeblieben war, immer noch stattlich genug und durch das schönste Ebenmaß der gewölbten Brust und der straffen Schenkel auffallend auf den ersten Blick. Nur der Kopf schien fast zu klein gerathen und Hände und Füße gar mit einem Weibe ausgetauscht. Geräuschlos glitt die schmiegsame Gestalt unter den Gewölbgittern entlang, ohne auch nur eine Traube zu streifen, und spähte vom nächsten Felsenvorsprung hinunter auf den Weg. Eine schmale, schwarzröckige Figur mit hohem, sehr abgetragenem Filzhut kam die breite Gasse zwischen Weinberg und Wiese dahergewändelt, im Schatten der Weidenbäume, ein offnes Buch in den gefalteten Händen, über das hinaus der Blick zufrieden und unbegehrlich nach den schönen Trauben schweifte. Auch ohne den langen Rock, der fast zu den Knöcheln der schwarzen Strümpfe herabreichte, hätte Jeder in dem bedäch- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0009"/> aber war, nach der Landessitte, von den Haaren verhängt, die früh schon dicht über den Augenbrauen abgeschnitten sich in einzelne Locken gewöhnt hatten und um Schläfe und Nacken ebenfalls gelockt herabhingen. Das gab dem Kopfe alle Jugendfrische zurück, die ihm die Schatten unter den dunkeln Augen zu nehmen drohten.</p><lb/> <p>Ein langsamer Schritt, der sich unten auf dem Fußsteige näherte, machte, daß er plötzlich aufstarrte, den Hut aufsetzte und die Hellebarde ergriff. Man konnte jetzt sehen, daß sein Wuchs hinter dem landüblichen etwas zurückgeblieben war, immer noch stattlich genug und durch das schönste Ebenmaß der gewölbten Brust und der straffen Schenkel auffallend auf den ersten Blick. Nur der Kopf schien fast zu klein gerathen und Hände und Füße gar mit einem Weibe ausgetauscht. Geräuschlos glitt die schmiegsame Gestalt unter den Gewölbgittern entlang, ohne auch nur eine Traube zu streifen, und spähte vom nächsten Felsenvorsprung hinunter auf den Weg.</p><lb/> <p>Eine schmale, schwarzröckige Figur mit hohem, sehr abgetragenem Filzhut kam die breite Gasse zwischen Weinberg und Wiese dahergewändelt, im Schatten der Weidenbäume, ein offnes Buch in den gefalteten Händen, über das hinaus der Blick zufrieden und unbegehrlich nach den schönen Trauben schweifte. Auch ohne den langen Rock, der fast zu den Knöcheln der schwarzen Strümpfe herabreichte, hätte Jeder in dem bedäch-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
aber war, nach der Landessitte, von den Haaren verhängt, die früh schon dicht über den Augenbrauen abgeschnitten sich in einzelne Locken gewöhnt hatten und um Schläfe und Nacken ebenfalls gelockt herabhingen. Das gab dem Kopfe alle Jugendfrische zurück, die ihm die Schatten unter den dunkeln Augen zu nehmen drohten.
Ein langsamer Schritt, der sich unten auf dem Fußsteige näherte, machte, daß er plötzlich aufstarrte, den Hut aufsetzte und die Hellebarde ergriff. Man konnte jetzt sehen, daß sein Wuchs hinter dem landüblichen etwas zurückgeblieben war, immer noch stattlich genug und durch das schönste Ebenmaß der gewölbten Brust und der straffen Schenkel auffallend auf den ersten Blick. Nur der Kopf schien fast zu klein gerathen und Hände und Füße gar mit einem Weibe ausgetauscht. Geräuschlos glitt die schmiegsame Gestalt unter den Gewölbgittern entlang, ohne auch nur eine Traube zu streifen, und spähte vom nächsten Felsenvorsprung hinunter auf den Weg.
Eine schmale, schwarzröckige Figur mit hohem, sehr abgetragenem Filzhut kam die breite Gasse zwischen Weinberg und Wiese dahergewändelt, im Schatten der Weidenbäume, ein offnes Buch in den gefalteten Händen, über das hinaus der Blick zufrieden und unbegehrlich nach den schönen Trauben schweifte. Auch ohne den langen Rock, der fast zu den Knöcheln der schwarzen Strümpfe herabreichte, hätte Jeder in dem bedäch-
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/9>, abgerufen am 16.07.2024. |