Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.wollen und, da er's ausschlug, in die Passer geworfen, obwohl sie es sehr gern gegessen hätte; denn sie weinte, als sie es gethan hatte. Noch jetzt, da er an diese kindischen Thränen zurückdachte, fühlte er eine triumphirende Freude, daß er so viel Gewalt über ihr leichtsinniges trotziges Herzchen gehabt hatte, und in demselben Augenblicke erschrak er über diese seine Freude. Er sprang verstört wieder auf und tappte sich vorwärts in dem öden Hallengang, bis er an das Haus kam, wo der Zehnuhrmesser wohnte. Die Hausthür war unverschlossen, der Flur mit der morschen winkligen Treppe so dunkel, daß jeder fremde Eindringling Gefahr lief den Hals zu brechen. Andree stieg aus den Zehen hinauf, er kannte jede Stufe. Die Fledermäuse schwirrten auf, als er oben unters Dach trat, wo der geistliche Herr sein Quartier hatte. Da stand er eine Weile an der Thür und horchte, ob er ihn drinnen im Schlaf athmen hörte. Dann entschloß er sich einzutreten. Das Zimmer aber war leer; auch in der anstoßenden Kammer, wo er selbst als Knabe gehaus't hatte, fand er ihn nicht. Und als ob er sich jetzt erst recht von Gott und Menschen verlassen fühlte, setzte er sich auf das unberührte Bett und dachte von Neuem an all die Jahre zurück und brütete über finstern Entschlüssen. Die große Katze, die Haushälterin des Zehnuhrmessers, schlich sacht heran, denn sie hatte ihn wohl wollen und, da er's ausschlug, in die Passer geworfen, obwohl sie es sehr gern gegessen hätte; denn sie weinte, als sie es gethan hatte. Noch jetzt, da er an diese kindischen Thränen zurückdachte, fühlte er eine triumphirende Freude, daß er so viel Gewalt über ihr leichtsinniges trotziges Herzchen gehabt hatte, und in demselben Augenblicke erschrak er über diese seine Freude. Er sprang verstört wieder auf und tappte sich vorwärts in dem öden Hallengang, bis er an das Haus kam, wo der Zehnuhrmesser wohnte. Die Hausthür war unverschlossen, der Flur mit der morschen winkligen Treppe so dunkel, daß jeder fremde Eindringling Gefahr lief den Hals zu brechen. Andree stieg aus den Zehen hinauf, er kannte jede Stufe. Die Fledermäuse schwirrten auf, als er oben unters Dach trat, wo der geistliche Herr sein Quartier hatte. Da stand er eine Weile an der Thür und horchte, ob er ihn drinnen im Schlaf athmen hörte. Dann entschloß er sich einzutreten. Das Zimmer aber war leer; auch in der anstoßenden Kammer, wo er selbst als Knabe gehaus't hatte, fand er ihn nicht. Und als ob er sich jetzt erst recht von Gott und Menschen verlassen fühlte, setzte er sich auf das unberührte Bett und dachte von Neuem an all die Jahre zurück und brütete über finstern Entschlüssen. Die große Katze, die Haushälterin des Zehnuhrmessers, schlich sacht heran, denn sie hatte ihn wohl <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0065"/> wollen und, da er's ausschlug, in die Passer geworfen, obwohl sie es sehr gern gegessen hätte; denn sie weinte, als sie es gethan hatte. Noch jetzt, da er an diese kindischen Thränen zurückdachte, fühlte er eine triumphirende Freude, daß er so viel Gewalt über ihr leichtsinniges trotziges Herzchen gehabt hatte, und in demselben Augenblicke erschrak er über diese seine Freude. Er sprang verstört wieder auf und tappte sich vorwärts in dem öden Hallengang, bis er an das Haus kam, wo der Zehnuhrmesser wohnte. Die Hausthür war unverschlossen, der Flur mit der morschen winkligen Treppe so dunkel, daß jeder fremde Eindringling Gefahr lief den Hals zu brechen. Andree stieg aus den Zehen hinauf, er kannte jede Stufe. Die Fledermäuse schwirrten auf, als er oben unters Dach trat, wo der geistliche Herr sein Quartier hatte. Da stand er eine Weile an der Thür und horchte, ob er ihn drinnen im Schlaf athmen hörte. Dann entschloß er sich einzutreten.</p><lb/> <p>Das Zimmer aber war leer; auch in der anstoßenden Kammer, wo er selbst als Knabe gehaus't hatte, fand er ihn nicht. Und als ob er sich jetzt erst recht von Gott und Menschen verlassen fühlte, setzte er sich auf das unberührte Bett und dachte von Neuem an all die Jahre zurück und brütete über finstern Entschlüssen.</p><lb/> <p>Die große Katze, die Haushälterin des Zehnuhrmessers, schlich sacht heran, denn sie hatte ihn wohl<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0065]
wollen und, da er's ausschlug, in die Passer geworfen, obwohl sie es sehr gern gegessen hätte; denn sie weinte, als sie es gethan hatte. Noch jetzt, da er an diese kindischen Thränen zurückdachte, fühlte er eine triumphirende Freude, daß er so viel Gewalt über ihr leichtsinniges trotziges Herzchen gehabt hatte, und in demselben Augenblicke erschrak er über diese seine Freude. Er sprang verstört wieder auf und tappte sich vorwärts in dem öden Hallengang, bis er an das Haus kam, wo der Zehnuhrmesser wohnte. Die Hausthür war unverschlossen, der Flur mit der morschen winkligen Treppe so dunkel, daß jeder fremde Eindringling Gefahr lief den Hals zu brechen. Andree stieg aus den Zehen hinauf, er kannte jede Stufe. Die Fledermäuse schwirrten auf, als er oben unters Dach trat, wo der geistliche Herr sein Quartier hatte. Da stand er eine Weile an der Thür und horchte, ob er ihn drinnen im Schlaf athmen hörte. Dann entschloß er sich einzutreten.
Das Zimmer aber war leer; auch in der anstoßenden Kammer, wo er selbst als Knabe gehaus't hatte, fand er ihn nicht. Und als ob er sich jetzt erst recht von Gott und Menschen verlassen fühlte, setzte er sich auf das unberührte Bett und dachte von Neuem an all die Jahre zurück und brütete über finstern Entschlüssen.
Die große Katze, die Haushälterin des Zehnuhrmessers, schlich sacht heran, denn sie hatte ihn wohl
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/65>, abgerufen am 16.02.2025. |