Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.und hohläugig wurde. Und eines Tags kam er zu seinem Lehrer und erklärte ihm, er werde sterben, wenn man ihn länger in der Stadt halte. Den Namen seiner Schwester hatte er nie genannt. Aber es war dem mitleidigen Seelsorger klar, daß ihn ein brennendes Heimweh nach ihr nage, und bestürzt übernahm er es, der Mutter die Nothwendigkeit der Rückkehr des Knaben vorzustellen. Die Alte wüthete und schalt und wollte nichts davon hören. Am Abend desselben Tages aber klopfte der Knabe droben in der Hütte wieder an, und nach einem leidenschaftlichen Auftritt, der wieder mit einem Krampfanfall der kleinen Marie endigte, ergab sich die Mutter in das Unabänderliche, unter der Bedingung, daß der entlaufene Student dem Vater Knechtsdienste thun und sein Lager in einem Winkel des Schuppens hinter dem Hause aufschlagen mußte. Die Kleine war sehr glücklich, ihn wieder zu haben, und er selbst schien um diesen Preis keine Entbehrung und Zurücksetzung zu hart zu finden. Er war nun anstellig zu Allem, was ihm der Pflegevater auftrug, arbeitete in den Weinbergen, ließ sich willig über Land schicken und sah die Mutter nur bei den Mahlzeiten, wo zwischen Beiden nie ein Wort gewechselt wurde. Da er kein Geld erhielt und an Kleidern nur das Nothdürftigste, blieb er von den anderen Burschen seines Alters, von Schenken und Kegelbahnen ein für alle Mal weg und schien nichts und hohläugig wurde. Und eines Tags kam er zu seinem Lehrer und erklärte ihm, er werde sterben, wenn man ihn länger in der Stadt halte. Den Namen seiner Schwester hatte er nie genannt. Aber es war dem mitleidigen Seelsorger klar, daß ihn ein brennendes Heimweh nach ihr nage, und bestürzt übernahm er es, der Mutter die Nothwendigkeit der Rückkehr des Knaben vorzustellen. Die Alte wüthete und schalt und wollte nichts davon hören. Am Abend desselben Tages aber klopfte der Knabe droben in der Hütte wieder an, und nach einem leidenschaftlichen Auftritt, der wieder mit einem Krampfanfall der kleinen Marie endigte, ergab sich die Mutter in das Unabänderliche, unter der Bedingung, daß der entlaufene Student dem Vater Knechtsdienste thun und sein Lager in einem Winkel des Schuppens hinter dem Hause aufschlagen mußte. Die Kleine war sehr glücklich, ihn wieder zu haben, und er selbst schien um diesen Preis keine Entbehrung und Zurücksetzung zu hart zu finden. Er war nun anstellig zu Allem, was ihm der Pflegevater auftrug, arbeitete in den Weinbergen, ließ sich willig über Land schicken und sah die Mutter nur bei den Mahlzeiten, wo zwischen Beiden nie ein Wort gewechselt wurde. Da er kein Geld erhielt und an Kleidern nur das Nothdürftigste, blieb er von den anderen Burschen seines Alters, von Schenken und Kegelbahnen ein für alle Mal weg und schien nichts <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0049"/> und hohläugig wurde. Und eines Tags kam er zu seinem Lehrer und erklärte ihm, er werde sterben, wenn man ihn länger in der Stadt halte. Den Namen seiner Schwester hatte er nie genannt. Aber es war dem mitleidigen Seelsorger klar, daß ihn ein brennendes Heimweh nach ihr nage, und bestürzt übernahm er es, der Mutter die Nothwendigkeit der Rückkehr des Knaben vorzustellen. Die Alte wüthete und schalt und wollte nichts davon hören. Am Abend desselben Tages aber klopfte der Knabe droben in der Hütte wieder an, und nach einem leidenschaftlichen Auftritt, der wieder mit einem Krampfanfall der kleinen Marie endigte, ergab sich die Mutter in das Unabänderliche, unter der Bedingung, daß der entlaufene Student dem Vater Knechtsdienste thun und sein Lager in einem Winkel des Schuppens hinter dem Hause aufschlagen mußte.</p><lb/> <p>Die Kleine war sehr glücklich, ihn wieder zu haben, und er selbst schien um diesen Preis keine Entbehrung und Zurücksetzung zu hart zu finden. Er war nun anstellig zu Allem, was ihm der Pflegevater auftrug, arbeitete in den Weinbergen, ließ sich willig über Land schicken und sah die Mutter nur bei den Mahlzeiten, wo zwischen Beiden nie ein Wort gewechselt wurde. Da er kein Geld erhielt und an Kleidern nur das Nothdürftigste, blieb er von den anderen Burschen seines Alters, von Schenken und Kegelbahnen ein für alle Mal weg und schien nichts<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0049]
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Die Kleine war sehr glücklich, ihn wieder zu haben, und er selbst schien um diesen Preis keine Entbehrung und Zurücksetzung zu hart zu finden. Er war nun anstellig zu Allem, was ihm der Pflegevater auftrug, arbeitete in den Weinbergen, ließ sich willig über Land schicken und sah die Mutter nur bei den Mahlzeiten, wo zwischen Beiden nie ein Wort gewechselt wurde. Da er kein Geld erhielt und an Kleidern nur das Nothdürftigste, blieb er von den anderen Burschen seines Alters, von Schenken und Kegelbahnen ein für alle Mal weg und schien nichts
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/49>, abgerufen am 16.02.2025. |