Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.einzurichten, daß sie wenigstens das halbe Gesicht nach ihm umkehrte, und sie schien dann so sehr in ihre bewundernde Andacht versunken, daß sie alles Andere darüber vergaß. Wer die einfachen und kühlen Sitten des Volkes und die ehrbare Gleichgültigkeit, mit der die Geschlechter sich hier begegnen, bedenkt, wird das große Aergerniß begreifen, das ein solches Betragen erweckt. Auch waren die Meisten ganz überzeugt, die Moidi sei nur halb bei ihren Sinnen, und man müsse sie gewähren lassen, da man sie doch nicht füglich vom Kirchgang zurückhalten könne, ohne den bösen Geistern noch größere Macht über sie einzuräumen. Die jungen Bursche aber dachten minder christlich und hießen sie einfach mannstoll, und da sich auch die Mädchen von ihr zurückzogen, war die schon von der Natur Gezeichnete desto auffallender, wenn sie einsam und ohne Gesellin den Küchelberg herab in die Messe ging, mit den durchdringenden Augen weit voraus unter den versammelten Männern am Kirchplatz nach ihrem Erkorenen suchend. Dann geschah es wohl, besonders nach der Vesper, wo schon der Wein in den Köpfen den Ton angab, daß einer der Hartherzigsten die schöne Passeirer Altjungfernklage zu singen anfing: Was muß ich armes Madl anheben, Daß ich grad' einmal bekomm' ein'n Mann? Die Buben die thun kein Achtung mehr geben, Vor mir lauft ein jeder darvon. einzurichten, daß sie wenigstens das halbe Gesicht nach ihm umkehrte, und sie schien dann so sehr in ihre bewundernde Andacht versunken, daß sie alles Andere darüber vergaß. Wer die einfachen und kühlen Sitten des Volkes und die ehrbare Gleichgültigkeit, mit der die Geschlechter sich hier begegnen, bedenkt, wird das große Aergerniß begreifen, das ein solches Betragen erweckt. Auch waren die Meisten ganz überzeugt, die Moidi sei nur halb bei ihren Sinnen, und man müsse sie gewähren lassen, da man sie doch nicht füglich vom Kirchgang zurückhalten könne, ohne den bösen Geistern noch größere Macht über sie einzuräumen. Die jungen Bursche aber dachten minder christlich und hießen sie einfach mannstoll, und da sich auch die Mädchen von ihr zurückzogen, war die schon von der Natur Gezeichnete desto auffallender, wenn sie einsam und ohne Gesellin den Küchelberg herab in die Messe ging, mit den durchdringenden Augen weit voraus unter den versammelten Männern am Kirchplatz nach ihrem Erkorenen suchend. Dann geschah es wohl, besonders nach der Vesper, wo schon der Wein in den Köpfen den Ton angab, daß einer der Hartherzigsten die schöne Passeirer Altjungfernklage zu singen anfing: Was muß ich armes Madl anheben, Daß ich grad' einmal bekomm' ein’n Mann? Die Buben die thun kein Achtung mehr geben, Vor mir lauft ein jeder darvon. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0034"/> einzurichten, daß sie wenigstens das halbe Gesicht nach ihm umkehrte, und sie schien dann so sehr in ihre bewundernde Andacht versunken, daß sie alles Andere darüber vergaß. Wer die einfachen und kühlen Sitten des Volkes und die ehrbare Gleichgültigkeit, mit der die Geschlechter sich hier begegnen, bedenkt, wird das große Aergerniß begreifen, das ein solches Betragen erweckt. Auch waren die Meisten ganz überzeugt, die Moidi sei nur halb bei ihren Sinnen, und man müsse sie gewähren lassen, da man sie doch nicht füglich vom Kirchgang zurückhalten könne, ohne den bösen Geistern noch größere Macht über sie einzuräumen. Die jungen Bursche aber dachten minder christlich und hießen sie einfach mannstoll, und da sich auch die Mädchen von ihr zurückzogen, war die schon von der Natur Gezeichnete desto auffallender, wenn sie einsam und ohne Gesellin den Küchelberg herab in die Messe ging, mit den durchdringenden Augen weit voraus unter den versammelten Männern am Kirchplatz nach ihrem Erkorenen suchend. Dann geschah es wohl, besonders nach der Vesper, wo schon der Wein in den Köpfen den Ton angab, daß einer der Hartherzigsten die schöne Passeirer Altjungfernklage zu singen anfing:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Was muß ich armes Madl anheben,</l><lb/> <l>Daß ich grad' einmal bekomm' ein’n Mann?</l><lb/> <l>Die Buben die thun kein Achtung mehr geben,</l><lb/> <l>Vor mir lauft ein jeder darvon.</l><lb/> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
einzurichten, daß sie wenigstens das halbe Gesicht nach ihm umkehrte, und sie schien dann so sehr in ihre bewundernde Andacht versunken, daß sie alles Andere darüber vergaß. Wer die einfachen und kühlen Sitten des Volkes und die ehrbare Gleichgültigkeit, mit der die Geschlechter sich hier begegnen, bedenkt, wird das große Aergerniß begreifen, das ein solches Betragen erweckt. Auch waren die Meisten ganz überzeugt, die Moidi sei nur halb bei ihren Sinnen, und man müsse sie gewähren lassen, da man sie doch nicht füglich vom Kirchgang zurückhalten könne, ohne den bösen Geistern noch größere Macht über sie einzuräumen. Die jungen Bursche aber dachten minder christlich und hießen sie einfach mannstoll, und da sich auch die Mädchen von ihr zurückzogen, war die schon von der Natur Gezeichnete desto auffallender, wenn sie einsam und ohne Gesellin den Küchelberg herab in die Messe ging, mit den durchdringenden Augen weit voraus unter den versammelten Männern am Kirchplatz nach ihrem Erkorenen suchend. Dann geschah es wohl, besonders nach der Vesper, wo schon der Wein in den Köpfen den Ton angab, daß einer der Hartherzigsten die schöne Passeirer Altjungfernklage zu singen anfing:
Was muß ich armes Madl anheben,
Daß ich grad' einmal bekomm' ein’n Mann?
Die Buben die thun kein Achtung mehr geben,
Vor mir lauft ein jeder darvon.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T11:27:07Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T11:27:07Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |