Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sanft eingeschlafen fand, vor den Herd gestreckt, um noch ein paar Stunden auszuruhen. Als er von seinen bangen Träumen im Zwielicht des weißen Morgennebels erwachte, hörte er Stimmen vor dem Fenster und sah Gestalten durch die Scheiben hereinspähen, die dann wieder verschwanden, um anderen Platz zu machen. Er horchte durch die Hausthür, die er zum Glück in der Nacht verriegelt hatte, und vernahm abgerissene Worte, die ihn nicht zweifelhaft ließen, was draußen umgehe. Aber wenn er erst durch den Nebel hätte blicken und die Straßen und Gärten überschauen können, wäre ihm vollends das Herz gesunken und das Haar zu Berg gestanden. Denn draußen hatte sich die halbe Bevölkerung der Dörfer Tirol, Grätsch und Algund, durch welche sie Tags zuvor in ihrem elenden Aufzug gewandert waren, in dichten Massen angesammelt, und Keinem kam es darauf an, die erste Messe zu versäumen. Was sie hier suchten, und weßhalb sie das Haus umstanden, wußte so eigentlich Niemand. Bei Allen regte sich nur das dunkle Gefühl, daß sich etwas Unerhörtes mit zwei Menschen ereignen müsse, die so unerhört sich versündigt, die Neugier, wie sich die Obrigkeit dem Gräuel gegenüber benehmen würde, bei sehr Wenigen das Mitleiden. Denn was die blonde Moidi etwa an Theilnahme der Nachbarn genoß, wurde durch die geringe Gunst, die sich der wortkarge Andree erworben, ja durch die Feindseligkeit, zu der sanft eingeschlafen fand, vor den Herd gestreckt, um noch ein paar Stunden auszuruhen. Als er von seinen bangen Träumen im Zwielicht des weißen Morgennebels erwachte, hörte er Stimmen vor dem Fenster und sah Gestalten durch die Scheiben hereinspähen, die dann wieder verschwanden, um anderen Platz zu machen. Er horchte durch die Hausthür, die er zum Glück in der Nacht verriegelt hatte, und vernahm abgerissene Worte, die ihn nicht zweifelhaft ließen, was draußen umgehe. Aber wenn er erst durch den Nebel hätte blicken und die Straßen und Gärten überschauen können, wäre ihm vollends das Herz gesunken und das Haar zu Berg gestanden. Denn draußen hatte sich die halbe Bevölkerung der Dörfer Tirol, Grätsch und Algund, durch welche sie Tags zuvor in ihrem elenden Aufzug gewandert waren, in dichten Massen angesammelt, und Keinem kam es darauf an, die erste Messe zu versäumen. Was sie hier suchten, und weßhalb sie das Haus umstanden, wußte so eigentlich Niemand. Bei Allen regte sich nur das dunkle Gefühl, daß sich etwas Unerhörtes mit zwei Menschen ereignen müsse, die so unerhört sich versündigt, die Neugier, wie sich die Obrigkeit dem Gräuel gegenüber benehmen würde, bei sehr Wenigen das Mitleiden. Denn was die blonde Moidi etwa an Theilnahme der Nachbarn genoß, wurde durch die geringe Gunst, die sich der wortkarge Andree erworben, ja durch die Feindseligkeit, zu der <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0142"/> sanft eingeschlafen fand, vor den Herd gestreckt, um noch ein paar Stunden auszuruhen. Als er von seinen bangen Träumen im Zwielicht des weißen Morgennebels erwachte, hörte er Stimmen vor dem Fenster und sah Gestalten durch die Scheiben hereinspähen, die dann wieder verschwanden, um anderen Platz zu machen. Er horchte durch die Hausthür, die er zum Glück in der Nacht verriegelt hatte, und vernahm abgerissene Worte, die ihn nicht zweifelhaft ließen, was draußen umgehe. Aber wenn er erst durch den Nebel hätte blicken und die Straßen und Gärten überschauen können, wäre ihm vollends das Herz gesunken und das Haar zu Berg gestanden.</p><lb/> <p>Denn draußen hatte sich die halbe Bevölkerung der Dörfer Tirol, Grätsch und Algund, durch welche sie Tags zuvor in ihrem elenden Aufzug gewandert waren, in dichten Massen angesammelt, und Keinem kam es darauf an, die erste Messe zu versäumen. Was sie hier suchten, und weßhalb sie das Haus umstanden, wußte so eigentlich Niemand. Bei Allen regte sich nur das dunkle Gefühl, daß sich etwas Unerhörtes mit zwei Menschen ereignen müsse, die so unerhört sich versündigt, die Neugier, wie sich die Obrigkeit dem Gräuel gegenüber benehmen würde, bei sehr Wenigen das Mitleiden. Denn was die blonde Moidi etwa an Theilnahme der Nachbarn genoß, wurde durch die geringe Gunst, die sich der wortkarge Andree erworben, ja durch die Feindseligkeit, zu der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0142]
sanft eingeschlafen fand, vor den Herd gestreckt, um noch ein paar Stunden auszuruhen. Als er von seinen bangen Träumen im Zwielicht des weißen Morgennebels erwachte, hörte er Stimmen vor dem Fenster und sah Gestalten durch die Scheiben hereinspähen, die dann wieder verschwanden, um anderen Platz zu machen. Er horchte durch die Hausthür, die er zum Glück in der Nacht verriegelt hatte, und vernahm abgerissene Worte, die ihn nicht zweifelhaft ließen, was draußen umgehe. Aber wenn er erst durch den Nebel hätte blicken und die Straßen und Gärten überschauen können, wäre ihm vollends das Herz gesunken und das Haar zu Berg gestanden.
Denn draußen hatte sich die halbe Bevölkerung der Dörfer Tirol, Grätsch und Algund, durch welche sie Tags zuvor in ihrem elenden Aufzug gewandert waren, in dichten Massen angesammelt, und Keinem kam es darauf an, die erste Messe zu versäumen. Was sie hier suchten, und weßhalb sie das Haus umstanden, wußte so eigentlich Niemand. Bei Allen regte sich nur das dunkle Gefühl, daß sich etwas Unerhörtes mit zwei Menschen ereignen müsse, die so unerhört sich versündigt, die Neugier, wie sich die Obrigkeit dem Gräuel gegenüber benehmen würde, bei sehr Wenigen das Mitleiden. Denn was die blonde Moidi etwa an Theilnahme der Nachbarn genoß, wurde durch die geringe Gunst, die sich der wortkarge Andree erworben, ja durch die Feindseligkeit, zu der
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/142>, abgerufen am 16.07.2024. |