Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.versetzte der Bursch. Wir sind vor ein paar Stunden angekommen, über Dorf Tirol, und die Leute haben uns wieder erkannt und mit Fingern auf uns gezeigt, und wie ich allein unten durch die Lauben kam, mochten sie's schon wissen, denn sie sind mir ausgewichen, als hätte ich eine Seuche und Pestilenz an mir. Droben aber sitzt das arme Weib und wartet, daß ich Sie mit herausbringe, und wenn Sie teilten Trost für sie haben, steh' ich für nichts. Denn es ist ein verzweifelter Geist, der ihr aus den Augen sieht, und ihr armer Verstand hängt an einem dünnen Faden. Noch ein Riß, so fällt er ins Bodenlose; darauf verlassen Sie sich, Hochwürden. Drei Wochen können's weit bringen mit so einem armen Weib. Er stand nun auch auf, als wollte er dadurch den schweigsamen geistlichen Herrn zu einem Entschlusse treiben. Der aber blieb noch eine ganze Zeitlang vor dem Kupferstich, obwohl et kaum einen Strich davon an der dunklen Wand unterscheiden konnte. Erst die achte Stunde, die es vom Thurm schlug, schien ihn zu mahnen, daß Gefahr im Verzüge sei. Er kehrte sich von der Wand ab, machte dem Andree ein Zeichen, daß er sogleich wiederkommen würde, und stieg, das einzige Licht vom Tische mitnehmend, die Treppe hinab, immer tiefer und tiefer, bis der letzte Schimmer verschwand. Aber kein Vaterunser lang währte es, so tauchte der Lichtschein wieder auf, und der würdige Herr versetzte der Bursch. Wir sind vor ein paar Stunden angekommen, über Dorf Tirol, und die Leute haben uns wieder erkannt und mit Fingern auf uns gezeigt, und wie ich allein unten durch die Lauben kam, mochten sie's schon wissen, denn sie sind mir ausgewichen, als hätte ich eine Seuche und Pestilenz an mir. Droben aber sitzt das arme Weib und wartet, daß ich Sie mit herausbringe, und wenn Sie teilten Trost für sie haben, steh' ich für nichts. Denn es ist ein verzweifelter Geist, der ihr aus den Augen sieht, und ihr armer Verstand hängt an einem dünnen Faden. Noch ein Riß, so fällt er ins Bodenlose; darauf verlassen Sie sich, Hochwürden. Drei Wochen können's weit bringen mit so einem armen Weib. Er stand nun auch auf, als wollte er dadurch den schweigsamen geistlichen Herrn zu einem Entschlusse treiben. Der aber blieb noch eine ganze Zeitlang vor dem Kupferstich, obwohl et kaum einen Strich davon an der dunklen Wand unterscheiden konnte. Erst die achte Stunde, die es vom Thurm schlug, schien ihn zu mahnen, daß Gefahr im Verzüge sei. Er kehrte sich von der Wand ab, machte dem Andree ein Zeichen, daß er sogleich wiederkommen würde, und stieg, das einzige Licht vom Tische mitnehmend, die Treppe hinab, immer tiefer und tiefer, bis der letzte Schimmer verschwand. Aber kein Vaterunser lang währte es, so tauchte der Lichtschein wieder auf, und der würdige Herr <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0120"/> versetzte der Bursch. Wir sind vor ein paar Stunden angekommen, über Dorf Tirol, und die Leute haben uns wieder erkannt und mit Fingern auf uns gezeigt, und wie ich allein unten durch die Lauben kam, mochten sie's schon wissen, denn sie sind mir ausgewichen, als hätte ich eine Seuche und Pestilenz an mir. Droben aber sitzt das arme Weib und wartet, daß ich Sie mit herausbringe, und wenn Sie teilten Trost für sie haben, steh' ich für nichts. Denn es ist ein verzweifelter Geist, der ihr aus den Augen sieht, und ihr armer Verstand hängt an einem dünnen Faden. Noch ein Riß, so fällt er ins Bodenlose; darauf verlassen Sie sich, Hochwürden. Drei Wochen können's weit bringen mit so einem armen Weib.</p><lb/> <p>Er stand nun auch auf, als wollte er dadurch den schweigsamen geistlichen Herrn zu einem Entschlusse treiben. Der aber blieb noch eine ganze Zeitlang vor dem Kupferstich, obwohl et kaum einen Strich davon an der dunklen Wand unterscheiden konnte. Erst die achte Stunde, die es vom Thurm schlug, schien ihn zu mahnen, daß Gefahr im Verzüge sei. Er kehrte sich von der Wand ab, machte dem Andree ein Zeichen, daß er sogleich wiederkommen würde, und stieg, das einzige Licht vom Tische mitnehmend, die Treppe hinab, immer tiefer und tiefer, bis der letzte Schimmer verschwand.</p><lb/> <p>Aber kein Vaterunser lang währte es, so tauchte der Lichtschein wieder auf, und der würdige Herr<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0120]
versetzte der Bursch. Wir sind vor ein paar Stunden angekommen, über Dorf Tirol, und die Leute haben uns wieder erkannt und mit Fingern auf uns gezeigt, und wie ich allein unten durch die Lauben kam, mochten sie's schon wissen, denn sie sind mir ausgewichen, als hätte ich eine Seuche und Pestilenz an mir. Droben aber sitzt das arme Weib und wartet, daß ich Sie mit herausbringe, und wenn Sie teilten Trost für sie haben, steh' ich für nichts. Denn es ist ein verzweifelter Geist, der ihr aus den Augen sieht, und ihr armer Verstand hängt an einem dünnen Faden. Noch ein Riß, so fällt er ins Bodenlose; darauf verlassen Sie sich, Hochwürden. Drei Wochen können's weit bringen mit so einem armen Weib.
Er stand nun auch auf, als wollte er dadurch den schweigsamen geistlichen Herrn zu einem Entschlusse treiben. Der aber blieb noch eine ganze Zeitlang vor dem Kupferstich, obwohl et kaum einen Strich davon an der dunklen Wand unterscheiden konnte. Erst die achte Stunde, die es vom Thurm schlug, schien ihn zu mahnen, daß Gefahr im Verzüge sei. Er kehrte sich von der Wand ab, machte dem Andree ein Zeichen, daß er sogleich wiederkommen würde, und stieg, das einzige Licht vom Tische mitnehmend, die Treppe hinab, immer tiefer und tiefer, bis der letzte Schimmer verschwand.
Aber kein Vaterunser lang währte es, so tauchte der Lichtschein wieder auf, und der würdige Herr
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/120>, abgerufen am 16.02.2025. |