Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.die Weiber hatten sich's in den Kopf gesetzt, die Tante Anna an der Spitze. Ein Narr sei er gewesen, daß er nachgegeben habe. Aber die Moidi würde es noch zu hören bekommen, und der Tante schenk' er es auch nicht. Vor Allem aber sei sie, die Rosine, daran schuld; sie hätte schon am Morgen nicht leiden dürfen, daß er mit der Moidi abzog - und dann eine Flut von brüderlichen Scheltreden, die freilich der Schwester nicht tief gingen. Denn ein viel härterer Kummer hatte ihre Seele gepanzert. Der Sommer kam, die Reben am Küchelberg garten längst abgeblüht, und die Weinbeeren schwollen und rötheten sich, die erste Feigenernte war vorüber und noch immer blieben die beiden Wallfahrer aus. Als auch die Weinlese verging und keine Spur der Entflohenen nirgendwo zu Tage kam, gab es Wenige, die noch geglaubt hätten, sie würden überhaupt jemals wieder auftauchen. Da Niemand so recht sich vorstellen konnte, was den Andree in die Welt hinausgelockt habe, auch die Meisten an seinem Thun und Lassen nur geringen Antheil genommen hatten war bald von dem Schicksal der Geschwister nicht mehr die Rede. Anfangs freilich hatte man viel darüber hin und her geräthselt. Denn das Befremdlichste war nicht die vorgespiegelte Wallfahrt, da die Tiroler ein bußwanderungslustiges Völkchen sind, die Weiber hatten sich's in den Kopf gesetzt, die Tante Anna an der Spitze. Ein Narr sei er gewesen, daß er nachgegeben habe. Aber die Moidi würde es noch zu hören bekommen, und der Tante schenk' er es auch nicht. Vor Allem aber sei sie, die Rosine, daran schuld; sie hätte schon am Morgen nicht leiden dürfen, daß er mit der Moidi abzog - und dann eine Flut von brüderlichen Scheltreden, die freilich der Schwester nicht tief gingen. Denn ein viel härterer Kummer hatte ihre Seele gepanzert. Der Sommer kam, die Reben am Küchelberg garten längst abgeblüht, und die Weinbeeren schwollen und rötheten sich, die erste Feigenernte war vorüber und noch immer blieben die beiden Wallfahrer aus. Als auch die Weinlese verging und keine Spur der Entflohenen nirgendwo zu Tage kam, gab es Wenige, die noch geglaubt hätten, sie würden überhaupt jemals wieder auftauchen. Da Niemand so recht sich vorstellen konnte, was den Andree in die Welt hinausgelockt habe, auch die Meisten an seinem Thun und Lassen nur geringen Antheil genommen hatten war bald von dem Schicksal der Geschwister nicht mehr die Rede. Anfangs freilich hatte man viel darüber hin und her geräthselt. Denn das Befremdlichste war nicht die vorgespiegelte Wallfahrt, da die Tiroler ein bußwanderungslustiges Völkchen sind, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="2"> <p><pb facs="#f0101"/> die Weiber hatten sich's in den Kopf gesetzt, die Tante Anna an der Spitze. Ein Narr sei er gewesen, daß er nachgegeben habe. Aber die Moidi würde es noch zu hören bekommen, und der Tante schenk' er es auch nicht. Vor Allem aber sei sie, die Rosine, daran schuld; sie hätte schon am Morgen nicht leiden dürfen, daß er mit der Moidi abzog - und dann eine Flut von brüderlichen Scheltreden, die freilich der Schwester nicht tief gingen. Denn ein viel härterer Kummer hatte ihre Seele gepanzert.</p><lb/> </div> <div type="chapter" n="3"> <p>Der Sommer kam, die Reben am Küchelberg garten längst abgeblüht, und die Weinbeeren schwollen und rötheten sich, die erste Feigenernte war vorüber und noch immer blieben die beiden Wallfahrer aus. Als auch die Weinlese verging und keine Spur der Entflohenen nirgendwo zu Tage kam, gab es Wenige, die noch geglaubt hätten, sie würden überhaupt jemals wieder auftauchen. Da Niemand so recht sich vorstellen konnte, was den Andree in die Welt hinausgelockt habe, auch die Meisten an seinem Thun und Lassen nur geringen Antheil genommen hatten war bald von dem Schicksal der Geschwister nicht mehr die Rede. Anfangs freilich hatte man viel darüber hin und her geräthselt. Denn das Befremdlichste war nicht die vorgespiegelte Wallfahrt, da die Tiroler ein bußwanderungslustiges Völkchen sind,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0101]
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Der Sommer kam, die Reben am Küchelberg garten längst abgeblüht, und die Weinbeeren schwollen und rötheten sich, die erste Feigenernte war vorüber und noch immer blieben die beiden Wallfahrer aus. Als auch die Weinlese verging und keine Spur der Entflohenen nirgendwo zu Tage kam, gab es Wenige, die noch geglaubt hätten, sie würden überhaupt jemals wieder auftauchen. Da Niemand so recht sich vorstellen konnte, was den Andree in die Welt hinausgelockt habe, auch die Meisten an seinem Thun und Lassen nur geringen Antheil genommen hatten war bald von dem Schicksal der Geschwister nicht mehr die Rede. Anfangs freilich hatte man viel darüber hin und her geräthselt. Denn das Befremdlichste war nicht die vorgespiegelte Wallfahrt, da die Tiroler ein bußwanderungslustiges Völkchen sind,
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/101>, abgerufen am 16.07.2024. |