Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.Zur Zeit als der heilige Ludwig in Frankreich Nun war es im frühen Frühling, daß in einem Zur Zeit als der heilige Ludwig in Frankreich Nun war es im frühen Frühling, daß in einem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0083" n="71"/> <p><hi rendition="#in">Z</hi>ur Zeit als der heilige Ludwig in Frankreich<lb/> die Krone trug, war die gute alte Stadt Arras ge¬<lb/> rade um ſechshundert Jahre jünger als heutzutage.<lb/> Daß ſie aber tauſendmal luſtiger war, hatte ſie außer<lb/> ihrer Jugend vor Allem der edlen Poetenzunft zu<lb/> danken, die in ihr hauſ’te und durch Lieder und Mi¬<lb/> rakelſtücke und kurzweilige gereimte Romane den Ruhm<lb/> ihrer Vaterſtadt weit über das ſchöne Frankreich ver¬<lb/> breitete.</p><lb/> <p>Nun war es im frühen Frühling, daß in einem<lb/> Gärtchen zu Arras hinter dem Haus eines dieſer<lb/> wackern Poeten ein junges Weib beſchäftigt war,<lb/> Reben an das Geländer zu binden. Sie war zierlich<lb/> gewachſen, von jener feinen behaglichen Fülle, die<lb/> ein friedliches Gemüth anzuzeigen pflegt, und gar<lb/> anmuthig von Geſicht. Stille ſchwarze Augen ließ<lb/> ſie dann und wann über den Garten ſchweifen, als<lb/> wüßten ſie weder von Freud' noch Leid. Aber ihre<lb/> Hände feierten und träumten nicht. Nach der Sitte<lb/> wohlhabender Bürgerinnen trug ſie das blonde Haar<lb/> mit mancherlei künſtlichem Bänderſchmuck geziert, den<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0083]
Zur Zeit als der heilige Ludwig in Frankreich
die Krone trug, war die gute alte Stadt Arras ge¬
rade um ſechshundert Jahre jünger als heutzutage.
Daß ſie aber tauſendmal luſtiger war, hatte ſie außer
ihrer Jugend vor Allem der edlen Poetenzunft zu
danken, die in ihr hauſ’te und durch Lieder und Mi¬
rakelſtücke und kurzweilige gereimte Romane den Ruhm
ihrer Vaterſtadt weit über das ſchöne Frankreich ver¬
breitete.
Nun war es im frühen Frühling, daß in einem
Gärtchen zu Arras hinter dem Haus eines dieſer
wackern Poeten ein junges Weib beſchäftigt war,
Reben an das Geländer zu binden. Sie war zierlich
gewachſen, von jener feinen behaglichen Fülle, die
ein friedliches Gemüth anzuzeigen pflegt, und gar
anmuthig von Geſicht. Stille ſchwarze Augen ließ
ſie dann und wann über den Garten ſchweifen, als
wüßten ſie weder von Freud' noch Leid. Aber ihre
Hände feierten und träumten nicht. Nach der Sitte
wohlhabender Bürgerinnen trug ſie das blonde Haar
mit mancherlei künſtlichem Bänderſchmuck geziert, den
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/83>, abgerufen am 25.07.2024. |